Erziehungskunst Heft 7/8 2003 (ohne Fotos)

 

Die Mathematik verleiht Festigkeit im Leben

 

Bärbel Kahn 

 

Seit einiger Zeit kommen immer häufiger Kinder und Jugendliche mit einer Rechenschwäche zu mir. Waren es vor zwei Jahren von zwölf Kindern ein bis zwei, sind es heute vier bis fünf Kinder. Diese Tatsache führte dazu, dass ich mich intensiver mit dem Thema Rechnen beschäftigte, um einerseits ein tieferes Verständnis für die Schwächen entwickeln und andererseits die richtigen „Hilfsangebote“ finden zu können.

Ich möchte hier auf einen vielleicht nicht ganz so bekannten Aspekt aus den vielen Aussagen Rudolf Steiners zum Wesen des Mathematischen aufmerksam machen.

Im 12. Vortrag des sogenannten »Weihnachtskurses« sagt er, dass es wichtig sei, »das ganze schulmäßige Alter hindurch« das Rechnerische und Geometrische zunächst künstlerisch an das Kind heranzubringen, dann zwischen dem 9. und 10. Lebensjahr zum Betrachten und Beschreiben der Gebiete überzugehen (Winkel, Dreiecke, Vierecke usw.) und erst gegen das 12. Lebensjahr zum Beweisen zu kommen. Dann lenkt Steiner die Aufmerksamkeit darauf, dass in der Sprache immer Gefühl und Gedanke ineinander verschwimmen.

»Und der Mensch würde durch dieses in der Sprache schon und durch manches andere in ein gewisses Chaos des Lebens hinein geworfen, wenn er nicht jene Festigkeit bekäme, die man gerade durch die Mathematik bekommt.« 1

Ist ein Lehrer mit wirklicher Begeisterung und seinem ganzen Wesen bei der Mathematik, dann wird er dadurch dem Verwirrenden, was das Leben ja immer hat, entgegen wirken. Er spricht auch davon, »dass der langweilige Lehrer ungeheuer wenig oder gar nichts erreicht. « Wichtig sei es, dass diese Mathematik ihr Wesen über den ganzen Menschen ausgießt.« 2

Seine methodischen Hinweise deuten die Richtung an, wie im Unterricht zu verfahren sei:

 

  • Beim Zählen und Rechnen ist immer vom Ganzen auszugehen (analytischer Ansatz);es ist ein Vordringen von der Einheit zur Zweiheit, zur Dreiheit, zur Vielheit: »Dadurch entsteht in dem Kinde ein innerliches Durchdringen des Zahlenmäßigen.« 3
  • Es ist darauf hinzuarbeiten, den Begriff der Einheit und der Zweiheit usw. aus dem Kind selbst zustande bringen: »Auf diese Weise kann man aus dem, was der Mensch selber ist, die Zahl ableiten: Man kommt vom Menschen zu der Zahl.« 4
  • Es ist nichts besser im Leben, als wenn man den Menschen im Ganzen geschickt macht. Steiner vergleicht das Zählen an den Fingern und den Zehen mit einem gesunden Meditieren über den eigenen Körper. »Und dasjenige, was man im Körper auf diese Weise tut, das spiegelt sich im Kopf nur ab. (…) Dasjenige, was getan wird im geistigen Leben, das wird alles vom Körper aus gemacht. Mathematisiert wird vom Körper aus, gedacht wird auch vom Körper aus, gefühlt wird auch vom Körper aus.« 5
  • Rechnen ist ein Bewegungsfach: »Versuchen sie turnend und auch vielleicht eurythmisch [gemeint sind Übungen mit dem Stab; Anm. d. Verf.] in die Bewegungen des Kindes die Zahl hineinzumischen, so dass es genötigt ist, sich selbst bewegend, zu zählen.« 6

 

Sich selbst beim Rechnen beobachten

 

Versuche ich, in einer Textaufgabe den Rechenansatz zu finden, muss ich mir die Aufgabenstellung oft mehr als einmal durchlesen, manchmal sogar laut vorsprechen. Dabei beobachte ich, wie sich in mir etwas klärt, sich in mir der Rechenweg bis hin zur Lösung, zunächst noch ohne konkrete Zahlen, eröffnet. Das Rechnen »geht dann oft wie von selber«. Natürlich muss ich mir die Größe der Zahlen vorstellen, die Regeln wissen und anwenden können.

 

Ein Beispiel: Berechne die Zahl, die um 40 größer ist als die Differenz der Zahlen 54 und 6. Beim ersten Lesen filtere ich die drei Zahlen heraus: 40, 54, 6. Beim zweiten Lesen finde ich den Anfang: Bilde die Differenz zwischen 54 und 6. Beim dritten Lesen: Die gesuchte Zahl ist um 40 größer als diese Differenz. Und nun geht alles ganz rasch in mehreren Schritten bis zur Lösung. Was geschieht innerlich? Auf der Grundlage meiner Sprach- und Lesekompetenz, einer wiederholentlichen Willensanstrengung und dem Wissen, was eine Differenz ist, habe ich das gegebene Ganze, den Text, zergliedert – »zerstört«. Ich habe die Zahlen zueinander in Beziehung gebracht und unter Beachtung der richtigen Reihenfolge und Rechenoperationen durch mein Denken zu einem neuen Ganzen, dem einen Ergebnis, zusammengefügt. Das ist eine vielschichtige und anstrengende Tätigkeit, je nach Umfang und Komplexität der Aufgabe. Und gerade derartige Leistungen fallen vielen Kindern und Jugendlichen, die zu mir kommen, sehr schwer.

In der folgenden Beschreibung des Entwicklungsweges von Roxana sind einige Übungen etwas ausführlicher erläutert, andere habe ich nur kurz erwähnt. Die rückblickende Betrachtung ist ein Versuch, auf die entscheidende Bedeutung der frühkindlichen Bewegungsentwicklung und auf einige wichtige Aspekte beim Umgang mit den uns anvertrauten Kindern hinzuweisen.

 

Roxana

 

Mit der freundlichen Erlaubnis Roxanas (Pseudonym) und ihrer Eltern möchte ich ihren Entwicklungsweg beschreiben, welcher hier auf ihre Biographie im Zusammenhang mit ihrer Lernschwäche gerichtet ist.

 

Im Dezember 2001 wurde mir Roxana von ihren Eltern vorgestellt. Sie war 13 Jahre und zwei Monate alt und besuchte damals die 7. Klasse einer Waldorfschule. Seit ihrem fünften Lebensjahr wächst Roxana als wohl behütetes Einzelkind in einer intakten Familie auf. Neben den Eltern ist die Großmutter eine wichtige Bezugsperson für sie. Roxana war mit 1,45 Meter für ihr Alter eher klein. Selber wusste sie ihre Größe nicht. Die Gesichtszüge waren damals noch rundlich-weich, die Körperproportionen wohl gestaltet. Ihr dunkles, glänzendes Haar trug sie lang und offen. Roxana wirkte auf mich wie zweigeteilt: einerseits kindlich-weich und offen, andererseits aber auch reif, ernst, abwartend und zurückhaltend (schwacher Händedruck, unstete, mitunter skeptische Blicke, fester Gang, abgeknabberte Fingernägel). Ihre Körperstruktur zeigte eine labile, mehr linksseitige Dominanz bei den Händen – sie schreibt mit der linken Hand, macht aber viele andere Dinge rechts – und bei den Füßen sowie beim Hinhören (Bevorzugung des linken Ohres), nur beim »einäugigen« Blicken z.B. durch ein Fernrohr bevorzugte sie zuverlässig das rechte Auge. Sie selber meinte, müde. Roxanas Bewegungen sahen geschickt aus; sie warf den Ball gleich gut mit der rechten und der linken Hand, lediglich ihr Hüpfen war hart und fest, egal auf welchem Fuß. An der Sprache bemerkte ich nichts Auffälliges. Roxana ist reisekrank, sie hat einen Heuschnupfen, eine allergische Bronchitis konnte im Sommer 2000 durch eine Eigenblut-Therapie geheilt werden.

Am Tage ihres ersten Geburtstages kam Roxana sofort vom Sitzen in die Aufrechte und ins Gehen. Sie übersprang das Robben und die Krabbelphase völlig. Die sich anschließende Sprachentwicklung verlief »normal«. Sie war gegen alle üblichen Kinderkrankheiten geimpft worden und bekam auch keine. Ebenso blieb sie in ihrer frühen Kindheit von schweren Erkrankungen, Unfällen und Operationen verschont. Ab dem 3. Lebensjahr ging Roxana in einen Kindergarten und wurde mit sechs Jahren, acht Monaten eingeschult. Sie besuchte von der 1. bis zur 4. Klasse eine Grundschule, wobei in der 3. Klasse der Lehrer wechselte. Bereits ab der 1. Klasse fielen Roxanas schwache Rechenleistungen auf. Vermehrtes Üben neben den Hausaufgaben brachte in der 2. Klasse mit sich, dass Roxana, die vorher ein sehr gesundes und fröhliches Kind war, des Öfteren erkrankte. Mit dem Lehrerwechsel in der 3. Klasse ging einher, dass sich die Mutter aus beruflichen Gründen nicht mehr so intensiv um ihre Tochter kümmern konnte, so dass ein etwas älteres Mädchen aus der Nachbarschaft und später eine Frau, die im

Haushalt half, Roxana bei den Hausaufgaben begleiteten und zusätzlich mit ihr übten. Aber mit Textaufgaben konnte sie kaum etwas anfangen – da half alles Üben nichts. Es fiel ihr besonders schwer, die richtigen Rechenoperationen anzuwenden und sich Rechenregeln und -wege zu merken. In der Schule wurden die Probleme, vorwiegend mit dem Lehrer, immer größer, so dass Roxana mitten in der 4. Klasse die Schule wechselte.

In der 5. Klassenstufe besuchte Roxana für einige Monate die Realschule, um nach kurzer Zeit an die Waldorfschule zu wechseln; jetzt besucht sie die 8. Klasse. Roxana ging wieder gerne zur Schule, auch stimmte das soziale Klima, an ihren Rechenschwierigkeiten änderte sich jedoch kaum etwas. Ihr Lehrer meinte damals, Roxana würde die »hochrationale Mathematik emotional« erleben, was immer das auch heißen mag.

Auf meine Nachfrage sagte Roxana, sie sei durch die vielen verschiedenen Erklärungen der Lehrer, ihrer Mutter, der Großmutter und anderer Menschen so verwirrt gewesen, dass sie gar nichts mehr verstehen konnte und dann auch nicht mehr wollte. Doch das hatte sie damals niemandem gesagt… Sie hatte begonnen, eine hartnäckige Abwehrhaltung gegen alles aufzubauen, was mit Zahlen und Rechnen zu tun hat. Ihr Selbstwertgefühl war sehr gering, was sie jedoch hinter einem »teeniehaften« Verhalten gut verbergen konnte. Wahrscheinlich hatte sich Roxana ihren Eltern zuliebe auf die Überprüfung und die nachfolgende Arbeit mit mir eingelassen, denn gleich in der ersten Trainingsstunde sagte sie zu mir: »Sie können sich Mühe geben, wie sie wollen, ich lerne das sowieso nicht!«

Es fiel Roxana schwer, mit Serien umzugehen, wenn diese mit Zahlen und Raumesrichtungen verbunden waren. Sie verwechselte mehrmals rechts und links und wurde nach eineinhalb Stunden so müde, dass sie laufend gähnen musste. Gesprochenes konnte sie sich nur schwer und dann nur ungenau merken. Am Gravierendsten aber war die Beobachtung, die ich bei einfachsten Multiplikations- und Divisionsaufgaben machen konnte. Sie konnte die Aufgaben auf dem Blatt sehen und sollte sie »im Kopf« ausrechnen. Roxana rechnete unter großer Anspannung bis in die Körperhaltung und die Atmung hinein und benötigte dafür sehr viel Zeit. Anschließend war sie völlig erschöpft. Nur einiges davon war richtig. Das Bruchrechnen sprach ich nur noch kurz an – sie konnte es nicht. Roxana trug keine Uhr und hatte auch kein Gefühl davon, wie viel Zeit während der Sitzung vergangen war.

 

Bewertung der Anamnese

 

Bei der Bewegungsentwicklung im Kleinkindalter hatte Roxana das Robben und das Krabbeln ausgelassen. Dadurch konnte sie die körperliche Dreiheit Kopf, rechte Körperhälfte und linke Körperhälfte nicht erleben, genau wie die Aufgliederung in die Vierheit durch das Vorwärtsbewegen mit Händen und Füßen sowie die Fünfgegliedertheit durch den sich unabhängig bewegenden Kopf. Ebenso fehlten ihr die intensiven Druck- und Tastwahrnehmungen an Händen und Knien während des Krabbelns. Das Krabbeln ist ein rhythmisch-fließender Prozess, der Zeit und Raum als »Bewegungsspur« untergliedert, wobei die drei Raumesdimensionen oben-unten, rechts-links, vorn-hinten in Bezug zum eigenen Körper erlebt werden. Während des Krabbelns wird die Sprache rhythmisch »gesungen«. Mit dem Krabbeln befreit sich das Kind von vielen reflexhaften oder unwillkürlichen Bewegungsmustern, damit Bewegungen willentlich ausgeführt und innerlich erlebt werden können. 7 All diese »Bewegungserlebnisse« bilden die Grundlage für die Schulung der »basalen Sinne«: des Gleichgewichts- und des Eigenbewegungssinnes, des Tastsinnes und des »Lebenssinnes« (Wahrnehmung der eigenen leiblichen Befindlichkeit). Mit der Schulreife soll das, was sich das kleine Kind durch das Aufrichten und das Gehen lernen, eigentlich durch die gesamte folgerichtige Bewegungsentwicklung an Sinnesqualitäten errungen hat, innerlich ergriffen werden. Doch wie kann das in der richtigen Weise geschehen, wenn entscheidende Bewegungserlebnisse gar nicht vorhanden sind?

In der frühen Kindheit konnte sich Roxanas Ich-Organisation nicht an der Überwindung von Kinderkrankheiten kräftigen. Es gab auch keine anderen schweren Erkrankungen, woran sich das Immunsystem hätte stärken können. Schauen wir auf Roxanas Rechts-Links-Händigkeit, ihre permanente Müdigkeit, die Reisekrankheit und auf ihr ungenaues Zeitgefühl, so scheinen in der unvollständigen Bewegungsentwicklung einige Ursachen für ihre späteren Rechenschwierigkeiten zu liegen.

In der Schule wechselten die Lehrpersonen ständig, damit verbunden die Methoden und Erklärungsversuche. Beim Erlernen des Zählens und Rechnens fehlten Roxana der Ansatz vom Ganzen zur Zweiheit, Dreiheit usw., die Verbindung zu sich selbst, indem die Zahlen aus dem lebendigen Menschen hervorgeholt werden, und das rhythmisch-taktmäßige Element des Umgangs mit Zahlen. Sie konnte die Zahlen innerlich nicht ergreifen und somit auch keinen individuellen Bezug zu den Zahlen und dem Rechnen herstellen. Textaufgaben konnte Roxana alleine nicht durchdringen, dazu fehlte ihr die Kraft – »die Zahlen sagten ihr nicht, was sie mit ihnen tun soll«. Im Bruchrechnen fehlte ihr alles Grundlegende. Eine längere Beständigkeit im Klassenverband kannte Roxana nicht. Viele Menschen erklärten ihr auf ihre Art die verschiedenen Rechnungen. Diese äußere Instabilität auf der Beziehungsebene (häufig wechselnde Lehrer und Bezugspersonen) verstärkte ihre innere Desorientierung im eigenen Körperschema, in Raum und Zeit und im Reich des Rechnens. In der Waldorfschule »hing« Roxana ihren Klassenkameraden mit immer größerem Abstand hinterher, was zu ihrer inneren Emigration beim Rechnen führte und zu der Einstellung: Was brauche ich das Rechnen? Ich mache später etwas, wozu ich das Rechnen nicht benötige!

 

Zielsetzung

 

Roxana in Eigentätigkeit zu bringen, damit sie sich durch das Rechnen »Festigkeit fürs Leben« aneignen und zu einem gesunden Selbstwertgefühl gelangen kann, war mein Ziel. Die Arbeit daran lässt sich in drei Schwerpunkte gliedern:

 

Sinnlich-leibliche Grundlagen:

Ordnung im eigenen Körperschema – Stabilisierung der dominanten linken Körperseite, Schulung der Basalsinne und des akustischen Gedächtnisses. Roxanas körperliche Stabilität hatte den Vorrang vor allen anderen Übungen, weil die innere Sicherheit, vermittelt durch den Gleichgewichts- und Eigenbewegungssinn, den Lebenssinn (Wahrnehmung des eigenen vitalen Befindens) entscheidend beeinflusst und ebenso die Fähigkeit, sich über einen längeren Zeitraum ohne allzu große Ermüdungserscheinungen konzentrieren zu können.

 

Rechnen – Musikalisch-Artistisches und Mathematisch-Ideelles:

Ausgehend von der Einheit zur Vielheit, Zähl- und Rechenübungen in einem überschaubaren Zahlenraum, verbunden mit äußerer Bewegung. Ausbilden eines beweglichen Denkens und eines willentlichen Durchdringens von Aufgabenstellungen – die Aufgabe zergliedern und unter Beachtung der richtigen Rechenoperation zu einer neuen Einheit zusammenfügen, Rechenregeln und -wege erlernen und anwenden.

 

Die Beziehung, die Kommunikation, die harmonisierende Mitte, das Lebendige:

Durch die Begegnung mit Roxana wurde mir die Wichtigkeit der Beziehung des »Lehrers« zum Schüler besonders deutlich. Ein Kind vertraut einem Erwachsenen nur dann, wenn sich dieser dem Kind aufmerksam und mit liebevollem Interesse zuwendet und das immer wieder neu, auch dann, wenn es schwierig ist. Dabei ist die Kontinuität in der Beziehung ebenfalls von großer Bedeutung.

Alle drei Richtungen mussten gleichzeitig verfolgt werden, in den verschiedenen Phasen mit unterschiedlicher Gewichtung.

 

Der Übungsweg

 

Ein Jahr lang, am Ende der 7. Klasse und zu Beginn der 8. Klasse bis zu den Weihnachtsferien, kam Roxana einmal wöchentlich für 60 Minuten zu mir (36 Trainingsstunden). Während der anderen Tage übte Roxana nach einem vorgegeben Plan täglich etwa 30 Minuten zu Hause; in den Ferien ruhte das Training. Den Entwicklungsverlauf und die Veränderungen besprach ich mit den Eltern in sechs- bis achtwöchigem Abstand, so dass auf dieser Grundlage das Training bei mir und der häusliche Plan aktualisiert werden konnten. Ebenso besprachen wir aktuelle pädagogische Fragen, und es gab Gespräche mit einzelnen Lehrern. Dieses Vorgehen schaffte um Roxana eine wärmende Hülle, und die Eltern lernten, ihr Kind sensibler wahrzunehmen.

 

Übungen zum Körperschema und zur Konzentration

Übungen von Audrey McAllen8 waren die dominanzstärkende »Dreiecksübung« und die Übung »Rechte Hand und linke Hand/Fuß«, welche Roxana je sechsmal durchführte. Dazu kamen Übungen zur Stärkung der Konzentrationskraft. Eine weitere Übung mit Zahlen erhöhte ihr Bewusstsein für den Körper – später verwandelte sie sich in eine »Anti-Stress-Übung«. Roxana erlernte das Jonglieren, zuerst mit Tüchern, dann mit drei Bällen (äußere Geschicklichkeit, »E«, Konzentration, Orientierung in Raum und Zeit, Freude). Sie machte verschiedene Mal- und Zeichenübungen, vorwiegend Achter, die in Bewegung kommen, zuerst nass in nass, später an der Tafel.

 

Übungen zum Rechnen

Ich ging mit Roxana den Weg von der 1. bis zur 4. Klasse nach menschenkundlichen Gesichtspunkten noch einmal, nur viel rascher, wobei der Weg immer von der äußeren Bewegung zur inneren Beweglichkeit verlief. Wir übten die verschiedenen Einmaleins Reihen – immer vorwärts und rückwärts –, indem wir uns einen Jonglierball zuwarfen. Es ergaben sich verschiedene Übvarianten, die auch mich herausforderten. Der Spaß kam hier nicht zu kurz! Wichtig an dieser Stelle war immer das Bewusstmachen dessen, was getan worden war, z.B. an den »Zahlensternen«. 9

Abschließend musste Roxana die Aufgaben wissensmäßig können, d.h. die Ergebnisse verinnerlicht haben (Ausbildung des Zeitgedächtnisses).

Der Jonglierball wurde durch einen Gymnastikball ersetzt, die Einmaleins Reihen durch Prellen richtig »auf den Boden« gebracht. Während des Sprechens ging Roxana vorwärts und rückwärts und führte den Ball abwechselnd rechts und links. Außerdem gab es verschiedene Lauf-, Klatsch- und Zählübungen. Das Aufteilen von Mengen in gleiche Teile übten wir anfangs gegenständlich. Wir arbeiteten an den Gesetzmäßigkeiten einiger Zahlenreihen und erkannten die 10 als »konkretes Ding« (Dezimalsystem). Roxana betrachtete Zahlen und lernte zu erkennen, was die eine mit der anderen zu tun hat (Zahlenbeziehungen und Analogien). Daraus ergaben sich sehr viele »Dazwischen-Aufgaben«: z.B. Wie viel ist zwischen 4 und 17, 19 und 3? usw., wobei wir den Zehnersprung üben konnten, indem zunächst die Finger zu Hilfe genommen wurden, um sie dann wieder wegzulassen. Zu Hause übte Roxana an der Verbesserung des akustischen Gedächtnisses, eine Übung so ähnlich wie »Kofferpacken«.

Erste Text-Aufgaben hatten mit Roxanas Lebenszeit zu tun. Wie viel Zeit hast du schon in der Schule verbracht? Wie viel freie Zeit verbleibt dir, usw. Parallel näherte sich Roxana dem Thema Zeit über das Erleben verschiedener Qualitäten. Es war wie ein Wunder, denn kurz darauf trug Roxana eine Uhr, hatte auch eine in ihrem Zimmer und kam zur rechten Zeit zu mir, was vorher nicht immer so war. Wir rechneten viele »Zeit-Aufgaben« (Jahr, Monat, Tag, Stunden, Minuten). Kopfrechnen mit Bewegung verbunden gab es stets zu Beginn der Stunde, manchmal auch zwischendrin. Im 8. Schuljahr kamen einfache Geometrieaufgaben, die in ein bewegliches Denken hineinführen, hinzu. Dabei übten wir besonders das Charakterisieren des Gezeichneten. Später rechneten wir auch aktuelle Textaufgaben aus der Schule. Ein letzter Schwerpunkt war das Rechnen mit Brüchen, beginnend mit einem Apfel bis hin zu den Regeln.

 

Beziehungspflege

 

Entscheidend für die Pflege der menschlichen Beziehung waren zu Beginn unserer Arbeit das Gespräch über die Schule oder andere wichtige Themen und die sehr gute Zusammenarbeit mit den Eltern. Besonders günstig war die Ausgangssituation nicht, denn eigentlich wollte Roxana nicht an ihrer Problematik arbeiten, und sie befand sich im vorpubertären Alter, was sie deutlich zum Ausdruck bringen konnte. Ich hatte aber den Eindruck gewonnen, dass sie durch die Begegnung mit mir so etwas wie einen kleinen Hoffnungsschimmer verspürte, ihre Schwierigkeiten doch irgendwie angehen zu können. Ich hatte ebenfalls ein positives Grundgefühl für die Arbeit, welches aus der Begegnung mit ihr und aus der Bereitschaft der Eltern, den Lernprozess liebevoll zu begleiten, herrührte.

Immer wieder galt es, Roxana Mut zu machen, auf Gefragtes ohne Scheu zu antworten. Dabei offenbarten sich große Unsicherheiten, weil sie nicht glaubte, dass ihr Ergebnis auch richtig sein kann. Doch oft genug war es das! Vieles mussten wir oft und oft wiederholen, und dabei kam es auch zu »Rückfällen«. Darauf ging ich besonders ein und besprach mit ihr, dass Lernen immer etwas mit Fortschritten, aber auch mit kleinen Rückschritten und Fehler machen dürfen zu tun hat. Persönliche Erlebnisse erzählte ich beispielhaft, so dass Roxana, so glaube ich, nie das Zutrauen zu sich selbst verlor. Wesentlich dabei waren der Humor, in dessen Atmosphäre auch Schweres bewältigt werden kann, das wahrhaftige, anerkennende Lob, welches erhebt, ermutigt und froh stimmt und dazu meine eigene Begeisterung für das Rechnen. Der regelmäßige Rückblick am Ende der Stunde auf alles, was während der Stunde getan worden war, inhaltlich und qualitativ, spielte für die Selbstmotivation eine große Rolle. Für Roxana wurden dadurch Veränderungen deutlich, wodurch sie wohl am stärksten bewogen wurde, weiter zu machen und durchzuhalten.

 

Veränderungen

 

Körperlich hat sich Roxana im vergangenen Jahr deutlich gestreckt, ihre kindlich-weichen Gesichtszüge haben sich konturiert und ihr Blick ist sicherer, offener und freundlicher geworden. Ihre linke Körperseite ist stabil; sie kann Rechts und Links rasch und sicher unterscheiden. Eine ständige Müdigkeit konnte ich nicht mehr bemerken. Ihr Selbstwertgefühl ist deutlich gewachsen, obwohl sie bei neuen Herausforderungen am Anfang immer noch sagt: Das kann ich nicht. Ich habe den Eindruck, dass sich ihre seelisch-geistige Entwicklung harmonisch im Äußeren ausdrückt – der anfangs zweigeteilte Eindruck ist für mich nicht mehr wahrnehmbar.

Wesentlich war die Überwindung der Lernbarriere, indem Roxana ihre Schwäche akzeptierte und sich meiner Führung anvertraute. So arbeitete sie sich Stück für Stück in das Mathematische hinein. Sie verband sich innerlich mit den Zahlen und wurde sicherer in ihren musikalisch-artistischen Fähigkeiten. Durch das Geometrisieren entwickelte Roxana eine bildhafte Vorstellungskraft, doch bedarf es für die Schulung der mathematisch- ideellen Fähigkeiten einer weiteren kontinuierlichen und vertiefenden Arbeit. Aus einem Gespräch mit den Eltern erfuhr ich, dass Roxana von sich aus ab und zu am PC mit einem Rechenprogramm arbeitet. Ihr Zeitgefühl und der Umgang mit Zeit haben sich grundlegend gewandelt.

Roxana schätzt ihre Fortschritte eher gering ein, obwohl sie in der Schule mit dem Lernstoff der 8. Klasse im Großen und Ganzen mithalten kann. Es ist ihr von alleine noch nicht möglich, ihren gewachsenen Fähigkeiten zu vertrauen. Dafür braucht sie weitere Hilfe ihres Lehrers und immer wieder Erfolgserlebnisse beim Rechnen selber, dazu den liebevollen Beistand und die Unterstützung ihrer Eltern. Aus deren Sicht hat sich bei Roxana sehr viel zum Positiven verändert.

 

Bewegungsentwicklung

 

Aus der Geschichte Roxanas sind die Schwierigkeiten, die sich u.a. aus der unvollständigen Bewegungsentwicklung für sie ergeben haben, sicherlich deutlich geworden. Deshalb kann schon bei der Aufnahme der Kinder in die Schule nicht genug Wert darauf gelegt werden zu erfahren, wie diese Entwicklung verlaufen ist. Im Grunde genommen sollte dies bereits im Kindergarten berücksichtigt werden, so dass die Kinder, für die es nötig ist, entsprechende Bewegungsübungen zusätzlich bekommen können. In diesem Zusammenhang möchte ich auf die von Emmi Pikler, ungarische Kinderärztin, entwickelte Pädagogik für Eltern-Kind-Gruppen hinweisen.10 Im Spielen erlernen die Kinder, die sechs Monate bis zweieinhalb Jahre alt sind, immer mehr Bewegungen und erreichen aus eigenen Kräften und zu ihrer Zeit den aufrechten Gang. Ich habe die Frage, ob die Zeit der ersten drei Lebensjahre, in der die Kinder so grundlegende Entwicklungsschritte machen, nicht stärker in unser Bewusstsein gerückt werden muss.

 

Die sensible Mitte

 

Bis zum 7. Lebensjahr wird im Wachstum der physische Leib durchformt und gestaltet. In den folgenden Jahren bis zur Pubertät differenziert sich besonders das Gefühlsleben der Heranwachsenden, insbesondere durch das Rechnen. Handelt z.B. ein Lehrer, die Eltern oder eine andere Bezugsperson unbedacht, weil ein Kind die Aufgabe eben nicht rasch genug versteht oder immer wieder den Rechenweg vergisst u.ä. – es muss gar nicht ausgesprochen sein, denn auch Gefühle und Gedanken sind Wirklichkeiten, die das Kind erreichen –, so trifft er damit genau die innerste, die sensibelste Stelle. Und das tut weh! Kinder, die so etwas mehrmals erlebt haben – manchmal genügt aber auch schon ein einziges

Mal –, beginnen, sich aus Angst davor zu schützen, indem sie seelisch »zumachen«. Die Angst führt oft zu einer Lernblockade, die sich zu einer Lernbarriere verfestigt, wenn später, wie bei Roxana, auch noch die Willenskräfte betroffen sind. Die Kinder stehen dem ungeschützt und hilflos gegenüber. Eine »Festigkeit fürs Leben«, so wie es Rudolf Steiner bezeichnet, können sie nicht in sich entwickeln.

Indem wir ständig unsere Kenntnisse der Entwicklungsgesetze der menschlichen Natur erweitern und vertiefen, auch über das Schulalter hinaus, bleiben wir immer Lernende. Stärken wir in uns selbst die Kraft der Mitte und wenden uns dem Werdenden im Kind mit wahrhaftigem, liebevollem und aufmerksamem Interesse zu und sind wir authentisch im Denken, Fühlen und Handeln, wird uns das helfen, das Tor zu den Kinderseelen zu öffnen. Nur so werden wir die Kinder von Mensch zu Mensch erreichen können.

Bedanken möchte ich mich bei Roxana, denn durch sie und auch durch andere Kinder bin ich angeregt worden, mich dem Mathematischen verstärkt zuzuwenden, dabei Neues zu entdecken und »Bekanntes« aufzufrischen und zu vertiefen. So hat ein jeder von uns gelernt, und es hat sogar Freude gemacht!

 

Anmerkungen

 

  1. Rudolf Steiner: Die gesunde Entwickelung des Menschenwesens, 12.Vortrag, GA 303, Dornach 4 1987, S. 228
  2. Ebenda, S. 229
  3. Rudolf Steiner: Die Kunst des Erziehens aus dem Erfassen der Menschenwesenheit, 5.Vortrag, GA 311, Dornach 5 1989, S. 83
  4. Ebenda, S. 80
  5. Ebenda, S. 82 – Zu den Grundlagen des Anfangsunterrichts im Rechnen in der Waldorfschule, vgl. Ernst Schuberth: Der Anfangsunterricht in der Mathematik an der Waldorfschule, Stuttgart 2 2001
  6. Rudolf Steiner: Erziehungskunst. Seminarbesprechungen und Lehrplanvorträge, 8. Seminarbesprechung, GA 295, Dornach 4 1984, S. 94; Irene Groh, Monika Ruef: Erziehung und Unterricht als Präventivmedizin, Pädagogisch-therapeutische Hinweise von Rudolf Steiner für Schulärzte und Lehrer an Waldorfschulen, Dornach 2002
  7. Heide Seelenbinder: Konstitutionell bedingte Rechenschwäche, Absatz 9.6: Reflexmotorik und die Entwicklung der Rechenfähigkeit, Pädagogische Forschungsstelle beim Bund der Freien Waldorfschulen, Stuttgart 2001
  8. Audrey McAllen: Die Extrastunde. Zeichen- und Bewegungsübungen für Kinder mit Schwierigkeiten in Schreiben, Lesen und Rechnen, Stuttgart 2 1996
  9. Ebenda
  10. Tanja Knoke: Spielraum für Bewegung, Medizinisch-Pädagogische Konferenz, Heft 21, Mai 2002, S. 8 ff.

Zur Autorin: Bärbel Kahn, Jahrgang 1955, Studium und Tätigkeit im Bereich Technologie der Bauproduktion in Ost-Berlin. 1990-1992 Studium der Waldorfpädagogik in Berlin. 1992-1998 Klassenlehrerin an der Freien Waldorfschule in Innsbruck. Im Januar 2000 Abschluss der Ausbildung zur Legasthenietrainerin. 1999-2002 dreijährige berufsbegleitende Ausbildung zur Entwicklungsbegleiterin für Waldorfschulen und -kindergärten. Seit 2000 Training bzw. Therapie legasthener und rechenschwacher Kinder, Jugendlicher und Erwachsener in freier Praxis.

 



       Kontakt

 

      Bärbel Kahn

      Philipsbornstraße 39

      30165 Hannover

 

      0176 82292497

      baerbel-kahn@gmx.de