John Wayne

 

Am 10. November 2000 sah ich John Wayne zum ersten Mal. Seine Mutter hatte mich bei einem Vortrag kennengelernt und gebeten, ihren Sohn wegen seiner Rechtschreibprobleme einmal anzuschauen. John W. war im 13. Lebensjahr und besuchte damals die 3. Klasse eines Gymnasiums. Beim Vorgespräch hatte ich in seinen Deutschheften u.a. gesehen, dass er öfter Buchstaben, meist Vokale, an Wortenden, aber auch mitten im Wort wegließ. Insgesamt sah das Schriftbild unregelmäßig und flüchtig aus. Deshalb wollte ich bei der Überprüfung besonders auf sein Sehen achten.

John W. wurde als einziges Kind einen Monat zu früh geboren. Seine Eltern sind beide Akademiker und lebten in getrennten Stadt-Wohnungen. So gab es für ihn von Anfang an eine Mama- und eine Papawohnung. In den ersten drei Lebensjahren erkrankte John W. einmal an Scharlach und litt immer wieder unter Bronchitis und an vergrößerten Mandeln; beim Schlafen hatte er öfter Atembeschwerden. Die Mutter hatte im Anamnesebogen angegeben, dass John W. unter einer Pollenallegie leiden würde, was aber noch nicht genauer ausgetestet worden war. Als er drei Jahre alt war, wurde die Wohnung überfallen. Ab dieser Zeit hatte er große Angst vor der Dunkelheit und konnte nur mit Licht einschlafen. Vor Personen oder anderen Dingen fürchtete er sich nicht.

Ab dem dritten Lebensjahr besuchte John W. drei Jahre lang einen Kindergarten. Bei seiner Einschulung war er mit 6 ½ Jahren noch sehr jung. Seitens der Mutter gibt es in der Familie mehrere Linkshänder und auch John W. schrieb von Anfang an mit der linken Hand. Während der ersten vier Schuljahre kam er in der Schule recht gut mit, obwohl er mehrmals erkrankte (Masern, Ringelröteln und was nicht ganz sicher festgestellt werden konnte, Mumps und Pfeiffer‘ sches Drüsenfieber). In der 1. Klasse nahm er an einem Förderkurs zur Rechtschreibung teil, doch meinte der damalige Deutschlehrer, dass keine Legasthenie vorliegen und John W. mit entsprechender Reife auch die Rechtschreibung erlernen würde. Schon immer hatte John W. gerne Bücher gelesen, er las sie auch laut vor. Selbstgeschriebenes dagegen las er nicht gerne vor.

Die Schwierigkeiten mit dem richtigen Schreiben waren im Verlaufe der Gymnasialzeit in Deutsch, aber auch in den Fremdsprachen immer deutlicher geworden. Sehr ärgerlich war, dass sich dieses Problem auch auf den Mathematikunterricht auszuwirken begann. Obwohl John W. sehr gut rechnen konnte, machte er Fehler, weil er Zahlen verkehrt abschrieb oder Details nicht beachtete. Beim Spielen, in Filmen und Büchern konnte er Details sehr gut erkennen und sich auch merken. Überhaupt war seine Aufmerksamkeit beim Spielen sehr groß, ebenso seine Ausdauer. Schon als kleiner Junge dachte er sich eigene, fantasievolle Spiele aus, konnte aber auch gut mit anderen Kindern spielen. John W. hatte einen Computer, mit dem er sich sehr gut auskannte und auf dem er gerne länger gespielt hätte, als die Mutter es ihm erlaubte (siehe dazu Interview, Frage 7). Sonst sei er weniger ausdauernd und geduldig. Ab Mai 2000, John W. war 12 Jahre alt, gingen seine Eltern getrennte Wege.

John W. war normal groß, hatte kurzes, dunkles Haar und sah mich etwas skeptisch an. Was mir sofort und auch später immer wieder auffiel, war eine angespannte Körperhaltung und eine beeinträchtigte Atmung sowie hin und wieder geschwollene Augen. Er erzählte, dass er sich mit seinen fünf Cousins und Cousinen sehr gut verstehen würde. Auch würde er sich in seiner Klasse, in der es mehr Buben als Mädchen gab, wohl fühlen und mit den Lehrern käme er ebenfalls gut zurecht. In seiner Freizeit liebe er es Sport zu treiben, zu lesen, Musik zu hören und zu singen, sehr gerne etwas von Mozart. Sport und Mathematik, besonders geometrisches Zeichnen, aber auch Englisch, Latein, Geschichte und Geographie mochte John W. In der Schule am liebsten. Das war bis auf Deutsch fast alles! John W. sprach sehr schnell und leise; manchmal musste ich ihn bitten, das Gesagte zu wiederholen.

Dann stießen wir auf eine Besonderheit. John W. nahm um Zahlen und Buchstaben Farben wahr, die immer die gleichen waren. Um die 4 und die 7 sah er rötlich, um die 2 weiß, um die 3 grün, um das A rot, das I gelb, das O blau oder braun, das E grün bis grünblau und um das U weiß.

Menschen mit solchen Mehrfachwahrnehmungen bezeichnet man als Synästhetiker (griechisch αίσθηση- ästhisi=Sinn, συν -sin=verbinden, also „Sinnverbinder“). Über Synästhetiker wusste man damals noch nicht so viel, aber doch, dass es sensible und oft künstlerisch sehr begabte, bildhaft denkende Menschen sind. Und man wusste, dass sie woanders eben auch ihre Schwächen haben. Künstler, die als Synästhetiker bekannt sind, sind z. B. Paul Klee, Wassily Kandinsky, Franz Liszt, Jean Sibelius, Olivier Messiaen u.a. Diese Tatsache gab mir einen wichtigen Hinweis darauf, warum es John W. mit dem Schreiben so schwer hatte.

Bei der Überprüfung zeigte sich, dass die Körperdominanz eindeutig links war. Den gesamten optischen Bereich absolvierte John W. sehr konzentriert. Vier abgezeichnete Kärtchen wiesen einige Unsicherheiten hinsichtlich der Proportionen und der Raumlage auf. Für eine Linienspiegelung benötigte er nur 3 Minuten! Dass er sich einmal vertan hatte, bemerkte John W. am Ende selbst; die Fehler-Stelle konnte er dann auch alleine finden.

Ungefähr ab dem 9. Lebensjahr frage ich die Kinder, wie sie sich die Reihenfolge von 8 Bildern (serielle optische Fähigkeit) merken konnten. Die meisten überlegen sich ein Ordnungsprinzip wie Größe, Alter usw. John W. war nach Gefallen (Gefühl) vorgegangen und hatte alle Bilder richtig zugeordnet…

Im akustischen Bereich hatte er etwas Mühe, sich einen Vierzeiler zu merken und bei einer Wortkette von 10 Wörtern war er ab dem siebten Wort unsicher. Eine körperbezogene, serielle Übung verursachte Stress, hingegen absolvierte er eine komplexe serielle Übung verbunden mit Zahlen und Richtungen spielend! Die intermodale Leistung, verschiedene Wahrnehmungsbereiche müssen zu einer komplexen Leistung verbunden werden, war etwas auffallend.

Als es ums Lesen ging, begann John W. sofort unruhig zu werden. Er las gut betont, aber wie gehetzt und sehr schnell. Dabei achtete er wenig auf die Interpunktion und atmete nicht an den „richtigen Stellen“. Harte und weiche Konsonanten konnte man nicht gut heraushören. Er las Wörter, die gar nicht da standen („Phantasiewörter“). Den Sinn hatte er gut erfasst. Die Abschrift des zuvor gelesenen Textes und auch die Ansage, die ihm irgendwie leichter fiel, verursachten bei John W. nur wenig Stress. Er schrieb schnell und flüssig und das Schriftbild erschien harmonischer als bei der Abschrift: gut geformte, kleine Buchstaben und gerade verlaufende Zeilen. Sie begannen sehr weit links, fast am Blattrand (Raumlageproblem) und der Abstand war etwas eng. Enge Zeilenabstände und Wortabstände deuten auf eine beeinträchtigte Atmung hin. Zweimal schrieb John W. anstatt „b“ ein „p“ (Tiroler Ausspracheproblem), anstatt eines „ä“ verwendete er ein „e“ und an „ehe“ hängte er ein „r“ daran. Bei 39 Wörtern waren das nur wenige und keine sehr schwerwiegenden Fehler! Allerdings hatte ich an der Sitzhaltung und der sehr festen Stifthaltung bemerken können, dass John W. das Schreiben anstrengte und er es wirklich nicht mochte.

Das Rechnen fiel ihm leichter. Bei den Additions- und Subtraktionsaufgaben ging John W. sehr rasch vor. Er lag nicht immer ganz richtig, merkte es (irgendwie, wieder nach Gefühl?) und korrigierte die Ergebnisse. Die Multiplikations- und Divisionsaufgaben rechnete John W. etwas langsamer aus, bis er zur Aufgabe 108:12=? kam. Er schaute sie eine Weile an und sagte kopfschüttelnd: Das kann ich jetzt nicht rechnen! Da mussten wir beide lachen. Gemeinsam fanden wir den leichten Weg - John W. rechnete sie einfach „von hinten“ aus.

Nach Auswertung der Überprüfungsergebnisse erstellte ich die Diagnose und besprach sie wenige Tage später mit der Mutter. Da John W. überwiegend optische Wahrnehmungsfehler gemacht hatte, (ein und dasselbe Wort wird auf einer Seite mehrmals verschieden geschrieben und nicht bemerkt), und neben dem angespannten Zustand nur die akustische Serialität auffällig war, empfahl ich der Mutter, eine Sehanalyse durchführen zu lassen. Hier versäumte ich nachzufragen, ob ihr die Synästhesie ihres Sohnes bekannt sei. Mir war damals noch nicht wirklich klar, wie sehr sich dieses Farberlebnis um Buchstaben und Zahlen tatsächlich auf die Schreib- und Lesefähigkeit auswirken MUSS! Die Mutter kümmerte sich sehr schnell um einen Termin für die Augenuntersuchung, die am 13.11.2000 durchgeführt wurde und keine Auffälligkeiten ergab.

Am 22.11.2000 kam John W., nicht so gern, zur ersten Übstunde zu mir (siehe dazu Interview, Frage 1). Nach einem kleinen Gespräch lernte er Aufmerksamkeits- und Atemübungen kennen und begann mit dem Aquarellieren. Das Malen mit Wasserfarben wirkt lösend und als Liegender Achter ausgeführt zudem harmonisierend auf das gesamte Befinden. Uns gegenüberstehend klatschten und stampften wir eine rhythmische Anti-Stress-Übung, die ihn anfangs ziemlich herausforderte. Zur Verbesserung der akustischen Serialität suchte er sich aus einem selbst gewählten Thema 10 Wörter heraus, die er richtig aufschrieb und als Wortkette auswendig aufsagte, zunächst von vorn und später auch von hinten. John W. visualisierte zwei Kärtchen und zeichnete sie aus dem Gedächtnis auf. Danach kontrollierte er das Ergebnis und berichtigte es ggf. Beide Übungen standen auch in seinem Trainingsplan, den er am Stundenende für die nächsten Wochen mitbekam. Weitere Übungen für zu Hause waren Linienspiegelungen und Wie viele Kreise findest du? Später sollte er ein Rätsel lösen, welches er jeweils in der Stunde bei mir aufschrieb (siehe dazu Thomas‘ Geschichte).

Zur Entschleunigung und besseren Unterscheidung harter und weicher Konsonanten sprach John W. über die gesamte Trainingszeit viele kleine Sprüche und Hexameter, was ihm stets Spaß machte (siehe dazu Interview, Frage 6). Im letzten Drittel der Stunde las er ein wenig mit der Leseschablone. Damit er auch hier langsamer wird und sich die Wörter länger und gründlicher anschaut, begann er den Text von hinten zu lesen. Bei dieser Vorgehensweise spielt der Inhalt keine Rolle. Gleich beim ersten Versuch sagte John W. ohne meine Nachfrage, dass ihm „das was bringen würde“. Der Stundenrückblick von hinten nach vorne war für ihn ungewohnt, doch nach und nach freundete er sich damit an.

In der zweiten Stunde lernte John W. die Astronautenübung (ASTRO) kennen, die ihn bis zum Schluss begleitete. Nachdem er sie gut konnte, stand sie auch in seinem Trainingsplan. Sie sollte ihm helfen, sich besser und länger konzentrieren zu können. Eine erste Buchstaben-Überkreuz-Übung (BÜÜ) löste er rasch und richtig, wie auch weitere in folgenden Stunden. Das Mond-Sonne-Bild zeigte, dass den Augen die Farben Blau und Rot richtig zugeordnet waren.

In der letzten Stunde des alten Jahres 2000 hatte John W. begonnen, das ABC vorwärts und rückwärts laufend zu sprechen. Im neuen Jahr kam er beim zweiten Mal gleich bis zum „R“. Das hatte ich noch nicht erlebt! Nach nur fünf Stunden konnte er das ganze ABC von vorn und von hinten aufsagen.

Stichprobenartig sagte mir John W. manchmal eine seiner Wortketten auf; er konnte es immer sehr gut. Auch seine gezeichneten Kärtchen zeigte er gerne vor. Mit der Zeit musste er daran immer weniger verbessern. Die Rätsel und BÜÜ hatte er meistens auch lösen können. Nur beim Lesen war er nach wie vor zu schnell und atmete noch nicht an den „richtigen Stellen“. So nahm ich einmal eine Leseprobe mit einem Diktiergerät auf, damit er selber hören konnte, wie es klingt. Sein Tempo überraschte ihn doch ziemlich und zeigte deutlich, dass der Übungsschwerpunkt weiterhin die Verlangsamung war! Beim Stundenrückblick sagte John W. fast immer, dass ihm das Aquarellieren am besten gefallen hat.

Nach 6 Übstunden erzählte mir die Mutter im ersten Entwicklungsgespräch, dass John W. die Anfangsübungen sehr gerne weglassen würde. Überhaupt müsse sie ihn ziemlich anspornen, die täglichen Übungen zu machen. Er würde sagen: Das bringt doch sowieso nichts. Doch hätte sie ihn bisher immer bewegen können, die Übungen zu machen. John W. hatte von irgendwoher aufgenommen, dass Legasthenie eine Krankheit sei und man daran nichts ändern könne. Es sei eben so! Mir gegenüber hatte er nichts davon erwähnt, doch wollte ich dieses Thema sofort in der nächsten Stunde aufgreifen. Weiter erwähnte die Mutter, dass John W. sehr unter der Trennungssituation der Eltern leiden würde, insbesondere, weil sich der Vater inzwischen völlig von der Mutter distanziert hatte. Bei den Leistungen sah sie noch keine Veränderungen.

Ich bemerkte, dass John W. Atmung sehr oft durch Erkältungen beeinträchtigt war. Durch das Wasserfarbenmalen und entspannende Atem- und die Sprachübungen hätte sich aber schon viel verbessert. Er sei insgesamt lockerer geworden, was man gut an der Körperspannung wahrnehmen könne. Ich hob seine Talente im seriellen Bereich (ABC) und beim Auswendiglernen von Sprüchen hervor. Zukünftig würde John W. zur Arbeit an der Rechtschreibung die „Kontrollhilfe in 7 Schritten“ kennenlernen. Ich erklärte der Mutter, wie sie mit ihm zu Hause damit arbeiten könne.

In der darauf folgenden Stunde sprach ich mit John W. über die Legasthenie und erzählte ihm auch von Ronald Davis. Ich erinnere mich, dass er währenddessen den Kopf gesenkt hielt und mich nicht ansah. Ob er mir glaubte, konnte ich nicht erkennen. Nach den Übungen, die sich nicht wesentlich veränderten, stellte ich ihm die „Kontrollhilfe“ vor. Nachfolgend bearbeiteten wir über einige Stunden einen Text, die Sage des Parzival, an die sich John W. noch nach zehn Jahren erinnern konnte (siehe Interview, Frage 6). Die Kontrollhilfe gefiel ihm recht gut und ich hatte die Hoffnung, dass er damit selbstständig an seiner Rechtschreibung arbeiten und sich, für sich selbst erlebbar, verbessern würde. Für zu Hause legte ich ihm die Anfangsübungen noch einmal ans Herz und direkt vor den schriftlichen Arbeiten die „Denkmütze“.

Von Stunde zu Stunde bemerkte ich, wie sich John W. besser konzentrieren konnte. Die ASTRO- Übung tat ihre Wirkung! Ebenso wurde er lockerer, was ich besonders bei den Anfangsübungen bemerken konnte. Doch irgendwie erschien mir John W. auch traurig. Beim Lesen war er langsamer und gründlicher geworden und er schrieb fast fehlerfrei. Allerdings hatte er beim Schreiben von Aufsätzen gemerkt, dass seine inneren Bilder oft so rasch aufstiegen, dass er mit dem Aufschreiben fast nicht hinterherkam. An richtiges Schreiben war dadurch kaum zu denken! Wir besprachen einige Dinge, die ihm helfen sollten, mit dieser Bilderflut „fertig zu werden“, z. B. abwarten, bis das innere Bild einigermaßen ruhig ist, kurze Sätze, möglichst ohne Nebensätze, bilden und sich voll darauf konzentrieren (siehe Annas Geschichte sowie Interview, Frage 7). Natürlich war der 13jährige John W. noch sehr jung für solche Ratschläge.

Anfang März 2001 führten die Mutter und ich nach 12 Übstunden unser zweites Entwicklungsgespräch. An der Trainingsmotivation hatte sich kaum etwas verändert. Die Anfangsübungen behandelte John W. stiefmütterlich und auch sonst erledigte er die meisten Übungen rasch und ohne sich größer zu bemühen. Dagegen nahm er erfreulicherweise die Arbeit mit der „Kontrollhilfe“ ernst, was mich sehr freute, weil das praktische Üben der Rechtschreibung unser Arbeitsschwerpunkt der zweiten Trainingsphase war. In der Schule zeigten sich aber noch immer keine grundlegenden Veränderungen. John W. bekam zu Hause oft Besuch und ging spät schlafen, so dass ihm Ruhe und Schlaf fehlten. Er würde sich auch ziemlich „pubertär“ verhalten.

Ich erzählte, dass ich John W. als ruhigen, leistungsstarken Jungen erleben würde, der bei mir die Übungen willig und gut mitmache. Außerdem käme er wirklich sehr regelmäßig. Dann sprachen wir über das Problem der inneren Bilder beim freien Schreiben. Übereinstimmend stellten wir fest, dass es für Legastheniker wirklich sehr schwer ist, ihre oft überschießenden Fantasiekräfte zu bändigen, um „normal“ schreiben zu können. Leider sei dieses sehr oft vorkommende „Wesensmerkmal von Legasthenikern“ vielen Pädagogen noch unbekannt. Ich empfahl der Mutter, John W. vor Aufsätzen immer wieder an meine kleinen Ratschläge zu erinnern. John W. sollte noch einmal für sechs Stunden zu mir kommen Danach würden in der Schule vermehrt Klausuren geschrieben werden, für die er viel lernen müsse.

Am 15. März begann unser dritter Trainingsabschnitt. John W. kam gut gelaunt, denn er konnte von guten Noten in der Schule berichten. In einer Lateinarbeit hatte er eine Zwei und in Englisch eine Drei bekommen. Da seine Nase frei war, machte er die Übung „Nasenyoga“, bei der die natürliche Ein- und Ausatmung über die Nase verstärkt wird. Die Anfangsübungen führte er selbstständig und sehr gut aus. Nach der ASTRO-Übung, die ihm ebenfalls sehr gut gelang, begann er eine neue Reihe von Aquarellen zu malen: Blauer Himmel und gelbe Sonne. Dieses therapeutische Bild sollte helfen, den Lesefluss weiter zu harmonisieren. Danach sprach er den Hexameter „Hast du die Welle gesehen“. Einmal lief er im typischen Schrittmaß im Kreis herum und beim zweiten Mal warfen wir uns gegenüberstehend einen Stab auf die langen Silben zu. Das harmonisiert und vertieft die Atmung sehr! Neu war auch das Jonglieren, worüber sich John W. sehr freute. Rasch übernahm er die Bewegungsabläufe mit zwei und auch gleich mit drei Tüchern. Die anderen Übungen – Lesen, Schreiben und Stundenrückblick – hatten wir beibehalten. Zu Hause sollte John W., wenn möglich, jeden Morgen vor der Schule die ASTRO-Übung machen. Daraufhin befragt, erzählte er später, dass er sich in den ersten zwei Stunden in der Schule frischer fühle, wenn er die Übung gemacht hatte. Leider würde er sie nicht jeden Morgen schaffen. Mit dem Jonglieren kam John W. sehr schnell weiter. Schon bald konnte er es mit zwei und auch mit drei Bällen! In der Schule stellten sich nun auch endlich die „ersehnten Verbesserungen“ ein. In Mathematik hatte er einen guten Dreier und in Deutsch einen guten Vierer mit nur vier Fehlern geschrieben. Stolz berichtete er davon, dass er bei den Redakteuren für die Schulzeitung mitmachen würde. Ich freute mich mit ihm. Am Ende unserer gemeinsamen Arbeit erzählte mir John W., dass die Zeitung sehr erfolgreich verkauft werden konnte und insgesamt 4.000 Schilling eingebracht hatte.

Am 25. April 2001 sahen wir uns zum letzten Mal. John W. war über einen Zeitraum von 5 Monaten insgesamt 18 Mal bei mir gewesen. Ein guter Prozess war in Gang gekommen und er hatte viele Übungen und die Kontrollhilfe für ein selbstständiges Arbeiten kennen- und anwenden gelernt. Dazu verschiedene Entspannungsübungen und die Einstellskala zum Feststellen des eigenen Befindens. Im Rückblick meinte John W., dass ihm das Malen immer am besten gefallen hätte, aber auch das Jonglieren und die Sprüche. Ich empfahl ihm, die ASTRO-Übung und die Kontrollhilfe nicht zu vergessen und ab und zu laut zu lesen. Wir verabschiedeten uns mit einem kräftigen Händedruck und ich hoffte, dass John W. mit Hilfe seiner Mutter, die ihn stets liebevoll und aufmerksam begleitet hat, seinen Weg finden würde.

 

Am Nachmittag des 3. Januar 2012 empfing mich der fast 24jährige John W. sehr freundlich bei sich zu Hause. Er wohnt noch immer, wie vor 11 Jahren, bei seiner Mutter in der gleichen Stadtwohnung nahe dem Inn. John W. ist etwa 1,70 m groß und hat sich sonst wenig verändert. Ich hätte ihn auch woanders sofort wiedererkannt. Wir machten es uns im Wohnzimmer bequem und begannen mit dem Interview. Als seine Mutter vom Skifahren zurückkehrte, kamen wir sogleich auf das interessante Thema der Synästhesie zu sprechen. Sie erzählte, dass es in ihrer ganzen Familie Menschen mit Mehrfachwahrnehmungen gäbe, so wie es ihr auch selbst erging. Deshalb würde sie es auch nicht als etwas Besonderes erleben. Ihr würden die farbigen Zahlen beim Merken von Telefonnummern helfen, dagegen sei es irritierend, wenn z. B. auf Plakaten Buchstaben anders gefärbt seien, als sie sie wahrnehmen würde; das ergäbe oft schreckliche Mischfarben. John W. hatte gut zugehört und an verschiedenen Stellen zustimmend genickt. Er machte auf mich den Eindruck, dass Synästhesie für ihn etwas sei, mit dem man ganz „normal leben kann“.

 

Interview mit John Wayne am 03.01.2012

 

Bärbel Kahn I Hallo, John Wayne, schön, dass du bei meinem Buchprojekt mitmachst, das freut mich!

Vor über 11 Jahren haben wir vom 22.11.2000 bis zum 25.04.2001 fünf Monate miteinander zu tun gehabt. Du warst damals im 13. Lebensjahr und besuchtest den Europazweig einer dritten Gymnasialklasse. Durch die Überprüfung am 10. November 2000 hatten sich einige Hinweise auf eine Legasthenie gezeigt.

  1. Ganz ehrlich, John W., wie gerne bist du zu mir gekommen?

John Wayne I Als Kind, ich kann mich erinnern, die Mama hat mir nicht wirklich gesagt, wieso. Es war einfach ein fixer Termin wie Schwimmen, Training oder so und das hab ich nie gern gemacht. Und das war einfach, weil ich immer lieber daheim geblieben wär. Aber als ich dann dort war, hats mir durchaus Spaß gemacht, weil die Übungen waren durchaus lustig und auch interessant für ein Kind.

BK I Bei unserm ersten Gespräch sagtest du, du würdest gerne und viel lesen, auch deine Mutter erzählte mir dies. Deshalb war es für alle verwunderlich, warum du dir die richtig geschriebenen Wörter nicht merken konntest. Und so lag der Schluss nahe, dass etwas vorliegen musste, was dich daran hinderte. Gleich am 10. November kamen wir beide darauf, dass du ein Synästhetiker bist, ohne es so zu benennen, d.h. du hattest Mehrfachwahrnehmungen. Du sahst um Buchstaben und Zahlen (Formen) verschiedene Farben, die stets die gleichen waren. Du konntest sie mir auch sagen.

  1. Wem hast du noch von diesen Farben erzählt? Siehst du sie heute noch?

JW I Ja, ich hab bereits mit mehreren Leuten darüber gesprochen. Nur ist es eben recht unterschiedlich, wie die Menschen drauf reagieren; in der Familie eher so, dass das gleiche Empfinden geteilt wird mit Farben um Buchstaben oder Zahlen und bei anderen ist es nur schwarz-weiß gefärbt oder sie können sich das generell nicht vorstellen. Es ist schon recht unterschiedlich, wie die Leute reagieren.

Bemerkung: John W. sieht auch heute noch die Farben wie seine Mutter, etwas differenzierter.

BK I Deine Eltern sind beide akademische Chemiker.

  1. Weißt du noch, was du mir gesagt hast als ich dich fragte, was du später einmal werden möchtest? Und in welche Richtung geht es jetzt tatsächlich? Wie ging es nach der Matura für dich weiter?

JW I Nein, an die genaue Situation kann ich mich nicht mehr erinnern. Aber es waren anscheinend auch sehr utopische Wünsche und Ideen, wie man später die Zukunft verbringen möchte. Es hat sich dann so entwickelt, dass ich nach der Matura das Studium der Rechtswissenschaften begonnen habe. Bemerkung: John W. wollte als fast 13jähriger in der Reihenfolge Erfinder, Programmierer, Journalist oder Arzt werden.

BK I Bei der Überprüfung warst du beim lauten Vorlesen sehr aufgeregt, hast gut betont, aber sehr schnell gelesen, so als wolltest du es ganz rasch hinter dich bringen.

In der Schule machtest du beim Schreiben neben Rechtschreibfehlern öfter auch „Auslassfehler“; du hast Buchstaben mitten im Wort und an den Enden weggelassen oder auch ganze Wörter, selbst bei Abschriften.

  1. Hast du dich manchmal selber gefragt: Was ist los mit mir? Warum passiert mir das? 

              Und wie sieht es heute mit dem Schreiben aus?

JW I Also in Bezug aufs Lesen ist es mir grad so gegangen, dass ich natürlich nervös war, das Problem aber eigentlich darin bestand, dass ich generell immer schneller gelesen hab, als ich mit dem Mund es laut aussprechen hätte können. Dem hätt wahrscheinlich eine Pause oder einfach ein Schritt zurückgehen dem entsprechend geholfen, aber, das ist natürlich nicht so einfach! Mit dem Schreiben sieht‘s heute so aus, dass es mir schon eben auch passieren kann, also ich muss dran denken, dass ich langsamer denk, damit ich nicht alles in sehr lange Sätze pack oder nicht alles schön kurz und prägnant gleich abhak‘. Das ist eben grad bei schriftlichen Arbeiten das Ziel, dass man das eben schön lang und breit erörtert mit möglichst viel Struktur und wenig Gedankensprüngen, die ich aber sehr schnell und gern machen würde. Bemerkung: J.W. schrieb in einer schön geschwungen Schreibschrift zwei lustige, fehlerfreie Sätze.

BK I Auf meine Frage, ob du manchmal schwere Träume hast, sagtest du ja. Du würdest manchmal verfolgt werden und wärst irgendwie alleine. Nun spielt ja so allerhand ins Leben hinein und man kann nicht alles mit der Schulsituation in Zusammenhang bringen. Trotzdem waren die Anforderungen im Gymnasium sicherlich sehr hoch und für die Hausaufgaben brauchtest du täglich ein bis drei Stunden, wozu dann noch das Lernen für Tests und Arbeiten kam sowie das Vorbereiten auf Referate usw.

  1. Hast du dich manchmal überfordert gefühlt und wenn ja, wie bist du damit umgegangen?

JW I Eben, ich hab mich vielleicht in dem Sinne überfordert gefühlt, dass man sich oft eben einfach weigert das zu tun, was von einem verlangt wird. Und dadurch dann eben auch umso mehr Pensum zusammenkommt und das dann auch nicht leichter wird, das zu erledigen und einfach immer Arbeit bedeutet!

BK I Du bist sehr regelmäßig und wohl auch recht gerne zu mir gekommen. Nach einem kleinen Gespräch und den Anfangsübungen hast du im mittleren Teil der Stunde sehr viele verschiedene Bewegungs- und Sprachübungen, aber auch Aquarellmalen und Jonglierübungen gemacht. Eine Übung zur Stärkung der Konzentrationskraft, damit du dich mit deinem Tun tiefer verbinden konntest, hattest du später auch im Trainingsplan für zu Hause.

  1. Welche Übungen sind dir denn besonders im Gedächtnis geblieben, haben dir vielleicht mehr Spaß als andere gemacht oder dir das Gefühl gegeben: Da kann ich etwas, was andere nicht können?

JW I Von den Übungen ist mir auf jeden Fall im Gedächtnis geblieben das Jonglieren mit Bällen und Tüchern, dann das ABC aufsagen, dabei  rückwärts und im Kreis gehen, dann das mit dem Flumi und dem Pappkarton, den Parzivaltext lesen und verschiedene Bilder malen, Sprach- und Atemübungen. Ja, die meisten haben mir auch recht Spaß gemacht. Mich hat eigentlich nur das zu Haus Wiederholen in Eigenregie oft nicht so getaugt, weil ich da andere Möglichkeiten seh.

BK I Offen gegenüber anderen Menschen, kontaktfreudig, viel Phantasie, spricht gern, erzählt gern Witze, spielt gerne und begreift neue Spiele, auch Gesellschaftsspiele, sehr schnell, keine Scheu vor technischen Geräten, hat Computer - das schrieb deine Mutter über deine Stärken. Über deine Schwächen sagte sie: Kann nicht gut verlieren, verhält sich manchmal schwierig beim Eingliedern in von Erwachsenen geführte Gruppen, wehrt sich übertrieben gegen Rechtschreibung.

  1. Was davon hast du dir erhalten bzw. abgelegt und wie hast du dich aus deiner Sicht weiterentwickelt?

JW I Es ist doch sehr viel passiert in der Zeit zwischen 13 und 23 in einem Jahrzehnt, dass man da einfach a bissl besseren Überblick über die Dinge bekommen hat. Ich hab mir auf jeden Fall erhalten, dass ich immer noch gern mit Menschen was zu tun hab und mich auch leicht in Gruppen einfügen kann. Und generell hat das Spielen für mich, ob Gesellschaftsspiele, Computerspiele oder auch Spiele mit Optionen, auf jeden Fall seinen Reiz, am wenigsten vielleicht noch das Glücksspiel.

  1. Wie ist das eigentlich mit deiner Fantasie? Kannst du sie heute „gebrauchen“ und wo?

JW I Ich denk, die Fantasie kann man auf jeden Fall gebrauchen, weil sie immer von Nutzen ist und einem eigentlich nur neue Optionen und Möglichkeiten aufzeigt. Eben auch beim Studium, grad bei meinem, muss man sich viele Sachverhalte vorstellen können, wozu eben auch Fantasie nötig ist, um überhaupt Lösungswege und Entscheidungen anzubieten.

  1. Was glaubst du, welche besonderen Talente hast du? Was kannst du vielleicht besser, als andere Menschen, die du kennst?

JW I Ich kann sagen, dass ich ein gutes Gedächtnis besitze und eine schnelle Auffassungsgabe. Ich kann mich gut in Menschen hineinversetzen. Und ich glaub auch, dass ich Zusammenhänge recht schnell verstehen kann. Auch mit Sprachen tu ich mich nicht schwer und sprech sie dann auch gerne.

  1. John W., gibt es etwas in deinem Leben, was du unbedingt erreichen möchtest, ein Lebensziel sozusagen?

JW I Es ist mein Lebensziel, das zu bekommen, was ich mir vorstelle, haben zu wollen oder zu brauchen und genau das zu behalten und zu beschützen, was einem lieb und teuer ist, genau das ist mein Lebensziel!

  1. Würdest du dich in etwa 10 Jahren erneut von mir befragen lassen?

JW I Ja, dem wäre ich durchaus nicht abgeneigt, da sich in weiteren 10 Jahren sicher einiges ereignen wird und es interessant wäre im Zuge eines weiteren Rückblicks Veränderungen zu erkennen.

 

BK I John Wayne, ich freue mich, dass du dir die Zeit genommen hast, dich von mir befragen zu lassen. Hab vielen Dank für das Interview. Für alles, was zukünftig auf dich zukommen wird, wünsche ich dir viel Kraft und Mut und Menschen um dich, die dir beistehen und helfen. Alles Gute für dich!

 

Zusammenfassung

 

John Wayne hat auf einige Fragen sehr allgemein geantwortet, manchmal auch das unpersönliche „man“ verwendet. Mir kommt vor, als ob er noch nicht deutlich genug sehen würde, was das Leben für ihn bereithält. Während unseres Gespräches war sein Blick oft tief nach innen gerichtet, manchmal auch weit in die Ferne.

Ich wünsche John Wayne, dass sich seine Zukunft zu lichten beginnt und er seinen Weg finden und mutig gehen kann. Dafür möchte ich ihm einen Spruch von J. W. von Goethe mitgeben:

 

Was immer du tun kannst oder träumst, es tun zu können, fang damit an!

Mut hat Genie, Kraft und Zauber in sich.

 

zurück zur Inhaltsübersicht

       Kontakt

 

      Bärbel Kahn

      Philipsbornstraße 39

      30165 Hannover

 

      0176 82292497

      baerbel-kahn@gmx.de