Clemens

 

Am 15. Oktober 2000, wenige Tage vor seinem 12. Geburtstag, lernte ich Clemens kennen. Seine Rechtschreibung Eltern hatten mich um eine Überprüfung gebeten, weil er sich trotz vielen Lesens mit der noch immer schwer tat. Schüchtern-vorsichtig sah mich Clemens bei unserer ersten Begegnung durch seine Brille an. Er war normal groß, sehr schlank, hatte lange schmale Hände und kurze hellbraune Haare. Clemens lächelte kaum, lediglich, als er mir von seinen Freunden und ihren Spielen erzählte und er formulierte schon sehr „erwachsen“. Insgesamt machte er auf mich einen offenen und freundlichen und zugleich einen zarten, sensiblen und auch etwas distanzierten Eindruck.

Clemens Eltern sind beide Mediziner. Er hat eine zwei Jahre ältere Schwester, die er damals sehr bewunderte, und eine zwei Jahre jüngere Schwester, mit der er sich nicht so gut vertrug. Die Familie wohnt mitten in der Stadt und im gleichen Haus wohnen noch eine Oma und andere Verwandte.

Clemens‘ Geburt und seine ersten Lebenstage verliefen unter recht schwierigen Umständen. Ebenso gab es in der frühkindlichen Entwicklung einige Auffälligkeiten. Schon im dritten Lebensmonat erkrankte der kleine Clemens an einer schweren Bronchitis, an der er danach immer wieder litt; dazu kamen häufige Mittelohrentzündungen. Später, mit etwa 10 Monaten, krabbelte Clemens nicht auf allen Vieren nach vorne, sondern schob sich auf dem Bauch liegend über den Boden zurück. Am Auffälligsten verlief seine Sprachentwicklung. Als kleines Kind konnte er „m“ und „n“ und „r“ und „e“ nicht unterscheiden und beim „s“ lispelte er stark, weshalb er viele Jahre von verschiedenen Logopäden betreut wurde (dazu seine Aussagen im Interview, Frage 2).

An dieser Stelle möchte ich auf den Zusammenhang zwischen Hören und Sprechen eingehen. Gerade in der Sprach-Lernphase war Clemens‘ Hörvermögen durch häufige Mittelohrentzündungen mehrfach beeinträchtigt, so dass ihm wahrscheinlich dadurch das differenzierte Heraushören der o.g. Laute nicht gelang und er sie dann auch sprachlich nicht differenzieren konnte. Zum „s“ komme ich etwas später.

Clemens besuchte drei Jahre lang einen Kindergarten. Bei einer Untersuchung vor Schulbeginn im Juli 1994 wurden ihm bei normaler, altersgemäßer Intelligenz ein sprachlicher Entwicklungsrückstand, einige deutliche und einige leichte Teilleistungsschwächen sowie Auffälligkeiten in der Arbeitsweise und im psychosozialen Verhalten bescheinigt. Hervorheben möchte ich die Aussage, dass Clemens damals zu psycho-motorischer Unruhe und fallweise zu sprachlicher Überaktivität und desorientierter Aufmerksamkeit tendierte. Alles in allem waren das keine guten Startbedingungen für die Schule!

Wie die meisten Kinder freute sich auch Clemens auf das Schulegehen und mit 6 Jahren und 10 Monaten war es dann so weit. Doch hatte er das Pech, an eine Lehrerin zu geraten, die in ihren pädagogischen Mitteln nicht sehr wählerisch war. Clemens, der nach Aussage seiner Mutter kleinste Stimmungschwankungen bemerkt, musste sich mit seinen Klassenkameraden anschreien und beschimpfen lassen, wenn sie etwas „falsch“ gemacht hatten; zudem wurden außerordentlich viele Diktate geschrieben. Darauf reagierte Clemens mit Bauchweh, Erbrechen und Ängsten. Die Eltern sahen, dass es ihrem Sohn an dieser Schule, mit dieser Lehrerin absolut nicht gut ging und meldeten ihn im Winter dort ab. Bis zum Ende der 4. Klasse besuchte Clemens dann eine Montessorischule, an die er sehr gute Erinnerungen hat, wie er im Interview, Frage 1, ausführt. Doch wird er den ersten Eindruck von Schule wohl nie in seinem Leben vergessen können…

Während der Volksschulzeit zeigte sich immer deutlicher, dass es Clemens schwer fiel, regelgerecht zu schreiben. Zudem verwechselte er lange Zeit hindurch die Reihenfolge der Jahreszeiten, der Monate und der Wochentage und brachte „vorgestern“ mit „über“ in Verbindung, so dass er z.B. „übergestern“ sagte. Das sind deutliche Hinweise auf eine Schwäche, sich Serien merken und zeitlich orientieren zu können, was ich auch bei anderen Legasthenikern bemerken konnte.

Als Clemens zu mir kam, besuchte er die 2. Klasse einer Übungshauptschule und hatte die letztgenannten Probleme überwunden. Obwohl er viele Bücher las und fast täglich mit der Oma zu Hause kleine Diktate übte, hatte sich über die Zeit an seiner Rechtschreibschwäche seltsamerweise nicht grundlegend etwas verändert. Neu dazu gekommen war, dass Clemens mathematische Aufgabenstellungen nur schwer und manchmal auch gar nicht verstand. Das Rechnen selber bereitete ihm keine Schwierigkeiten.

Während der Überprüfung verband sich Clemens mit allem was er tat, ob es die Übungen waren oder Lesen und Schreiben, nur sehr flüchtig und alles lief sehr schnell ab. So wie Clemens sprach, machte es auf mich den Eindruck eines rasch dahinfließenden, plätschernden Baches.

Ich kenne dieses Phänomen auch von anderen Kindern und nenne es „Sprachliches Ausfließen“: begeistert und sehr bildhaft an Fragen vorbei erzählen und sich dabei in der Sprache verlieren, Sätze ohne Ende. Viele dieser Kinder stoßen beim „s“ mit der Zungenspitze an die oberen Schneidezähne, bei manchen drängelt sich die Zunge sogar durch die Zahnreihen hindurch. Eltern anderer sprachfreudiger Kindern, die nicht oder nur wenig lispelten, hatten mir berichtet, dass ihr Kind oft noch bis in der Schulzeit hinein, Bettnässer war. Beobachtet man solche Kinder, kann man wahrnehmen, dass sie mehr in ihrer Außenwelt, mehr außer sich, als bei sich sind. Oft scheint es so, als würden sie regelrecht „hinausgezogen“! Sie nehmen viele Dinge wahr und oft auch anders als andere. Immer wieder schweifen sie, insbesondere bei schriftlichen Arbeiten, in den Umkreis ab, weil sie etwas Interessantes gesehen oder gehört haben. Wollen sie zu ihrer Arbeit zurückkommen, müssen sie sich „sammeln“ oder noch bildhafter ausgedrückt „aus der Umgebung einsammeln“. Sie müssen sich anstrengen, um sich zu konzentrieren, um auf ihr Zentrum, auf den inneren Punkt zu kommen. Das fällt ihnen sehr schwer, weil sie von ihrer Anlage, ihrer Disposition her, anders geboren wurden. Das Verhältnis von Aufmerksamkeit zur Konzentration, vom Kreis zum Punkt, ist bei diesen Kindern, natürlich verschieden abgestuft, nicht ausgewogen, nicht im Gleichgewicht. Es fällt zugunsten der Aufmerksamkeit aus und damit zum „Über-Sich-Hinausgehen“, was sich dann durch eine schwache Blase oder aber auch oft im „s“ ausdrückt. So erlebte ich es bei Clemens, wobei der Sprachfehler damals durch jahrelanges Training bereits „behoben“ war, doch seine Sprachfreude hatte er sich erhalten.  

Die soeben beschriebenen Phänomene habe ich bei vielen Kindern über mehrere Jahre immer wieder wahrnehmen können; es sind meine Erfahrungen. Ich weiß, dass jeder Mensch einmalig ist, und doch findet man immer auch einiges Gemeinsame.

Innerlich war Clemens angespannt und atmete nur flach; die Füße bewegten sich oft unruhig hin und her oder sie waren oben auf der Couch. Natürlich war er sich der Überprüfungssituation bewusst, doch hatte er schon viele derartige Situationen erlebt, so dass ich ausschließen konnte, er würde nur deswegen so unruhig sein. Besonders deutlich wirkte sich diese unruhig-flüchtige Arbeitsweise bei den Mathematikaufgaben aus. Bei zwei Aufgaben vertauschte Clemens die großen, farbigen Rechenzeichen – grünes Pluszeichen, blaues Minuszeichen – einmal verwechselte er rechts mit links und einmal rechnete er etwas, was ich nicht nachvollziehen konnte. Und auch hier war er sehr schnell fertig! Die Aufgaben im optisch-bildhaften Bereich fielen Clemens leicht. Jedoch war beim Mond-Sonne-Bild die Farbneigung vertauscht: Die rote Sonne befand sich links und der blaue Mond rechts. Beide Gestirne waren ausgemalt und so groß, dass sie gar nicht ganz auf das Blatt passten! Zum einen drückt dies aus, dass das Kind gesund ist und über gute Lebenskräfte verfügt und zum andern, dass es sich zu Hause, in der Schule und in anderen Zusammenhängen sozial recht wohl fühlt. Was Clemens nicht leicht fiel, war die Links-Rechts-Spiegelung von Linien auf Kästchenpapier, sicherlich auch im Zusammenhang mit der vertauschten Farbneigung zu sehen. An einer Stelle hatte er anstatt zur Linie hin von der Linie weg gezeichnet und es erst ziemlich spät weiter unten bemerkt. Zudem konnte er nur schwer auf der Linie bleiben. Beim Bilden einer „Wortkette“ – wie beim Spiel „Ich packe in meinen Koffer“ kommt immer ein Wort dazu – konnte sich Clemens die Einzahl- und die Mehrzahlwörter nur schwer merken und bei solchen Aufgaben, bei denen verschiedene Wahrnehmungen zu einer komplexen Leistung miteinander verbunden werden müssen, intermodale Leistungen, zeigten sich ebenfalls deutliche Schwächen. Im Gegensatz zum optischen Gedächtnis für Bilder war das optische Wort-Gedächtnis nicht gut ausgebildet, denn Clemens schrieb mehrere Wörter fehlerhaft ab. Die Ansage stresste ihn noch mehr, wobei ihm etwa genauso viele Fehler unterliefen, wie bei der Abschrift. Die Buchstaben waren wenig durchformt und manche konnte ich nur schwer erkennen bzw. kaum voneinander unterscheiden. Schreiben war für Clemens eine sehr unangenehme, nicht gewollte Angelegenheit! Bei rhythmischen Klatsch- und Stampfübungen jedoch zeigte sich zum einen seine Bewegungsfreude und zum andern sein ausgesprochen gutes rhythmisches Gefühl. Zu dieser Zeit spielte er schon seit einem Jahr mit großer Begeisterung Schlagzeug. Später, an einer weiterführenden Schule mit musischer Ausrichtung, beteiligte sich Clemens an Wettbewerben und trat auch auf damit.

Gleich zu Beginn unserer Arbeit lernte Clemens verschiedene Atem- und Entspannungsübungen kennen, die er später sehr selbstständig ausführte. Vor den Lese- und Schreibübungen gefiel ihm die „Denkmütze“ besonders, die er auch heute noch ab und zu macht. Zur Veränderung der vertauschten Farbneigung malte Clemens großformatige Aquarelle, die sich auch lösend auf die innere Verspanntheit und die motorische Unruhe auswirken sollten. Durch die glänzenden, kräftigen Farben wirken solche Wasserfarbenbilder immer auch seelisch aufhellend. Weiter machte Clemens verschiedene serielle und intermodale Bewegungsübungen, z.B. das ABC vorwärts und rückwärts laufen und sprechen, was ihm sehr gefiel. Auch bei den Sprachübungen, seine Sprache sollte deutlicher und kräftiger werden und sich „verlangsamen“, machte Clemens gut mit und hatte mehr und mehr Spaß dabei. Man darf nicht vergessen, dass er ja schon viel „logopädische Erfahrung“ hatte! Da waren u.a. „Esel fressen Nesseln nicht“, „Der dicke Diener zog“, „Tausend Tropfen“, „Zehn zahme Ziegen“, „Du Dachdecker da!“ und „Wer berät langen Rat“. Von den Stabreimen (Alliterationen) gefielen Clemens die „Ragenden Riesen“ am besten, wobei er tatsächlich einen Stab werfen und fest greifen musste. Da Clemens nach wie vor zu Hause jeden Tag ein kleines Diktat schrieb, das er anschließend selbst korrigierte, verzichtete ich anfangs bewusst auf eine konkrete Arbeit an der Rechtschreibung. Doch auf die Buchstaben-Überkreuz-Übung (BÜÜ) freute er sich immer! Er machte sie wohl deshalb so gerne, weil er als strukturierter und ordentlicher Mensch, so die Mutter, mit dem Ablauf sehr gut zurechtkam. Außerdem konnte er, aufgrund seines gut ausgeprägten Wortsinnes, die Wörter schon während des Einsammelns und Aufschreibens der Buchstaben richtig erkennen. Daran zeigte sich, dass Clemens ein Viel-Leser war und immer noch ist! Er mochte auch die sich anschließenden Gespräche zu den von mir ausgewählten Sprichwörtern. Der Rückblick am Stundenende gelang ihm von Mal zu Mal besser; auch hier half ihm sicher seine strukturierte Vorgehensweise. Außerdem konnte er erkennen, was alles in der Stunde geschehen war und ob es sich verbessert hatte oder noch nicht. Mit 12 Jahren mag man nicht unbedingt Dinge zusätzlich tun, wenn einem nicht klar wird, dass sich etwas zum Positiven verändert!

Zu Hause führte Clemens zu Beginn die bei mir erlernten Atem- und Entspannungsübungen durch, die ihm helfen sollten, in eine gute Übungsverfassung zu kommen. Lange Zeit zeichnete er fortlaufende Formen, wobei er sich zunächst etwas schwer damit tat, meinte die Mutter. Doch mit der Zeit gelangen sie ihm immer besser. Diese Zeichenübungen dienten insbesondere der genauen Wahrnehmung, der Verbesserung der Formkraft und auch dazu, dass sich Clemens tiefer mit einer Sache verbinden konnte. Er stellte zu selbst gewählten Themen eigene Wortketten zusammen, deren Wörter er zuerst auswendig sprechen und später auch richtig schreiben sollte (seriell-akustische Übung, seriell-optische Wortbildarbeit).

Die ersten Wochen kam Clemens gerne und regelmäßig zu den Übstunden, machte gut mit und erledigte zu Hause seine Aufgaben zuverlässig. Zu Beginn unterhielten wir uns über das, was ihn bewegte. Sehr oft waren es irgendwelche Tests, die bereits geschrieben worden waren oder noch geschrieben werden sollten. Clemens nahm alles Schulische sehr ernst und lernte viel, häufig auch an den Wochenenden. Und so hatte sich trotz vieler entspannender Übungen – Atmung, Sprache, Aquarellieren – an seinem angespannten Zustand in den ersten Wochen kaum etwas verändert; auch aus der Schule gab es noch keine positiven Rückmeldungen. Wie auch, wenn sich am Gesamtzustand Clemens‘ noch nichts Wesentliches verändert hatte! Bei den meisten anderen Kindern waren nach sechs Wochen intensiver Arbeit die ersten Erfolge sichtbar geworden.

Im zweiten Trainingsabschnitt behielten wir die Atem- und Entspannungsübungen bei, ebenso das Aquarellieren, die Sprachübungen und den Rückblick am Stundenende. Zur Verbesserung der Konzentrationskraft und um zu mehr innerer Ruhe zu kommen, erlernte Clemens die Astronautenübung (ASTRO-Übung), die ihn bis zum Schluss begleitete und an die er sich auch nach zehn Jahren noch gut erinnern konnte. Um zum einen mathematische Aufgabenstellungen leichter verstehen zu können und zum andern ihm zur Freude, begannen wir Mitte Dezember 2000 mit dem Jonglieren, zunächst mit Tüchern, später mit Bällen. Clemens war fürs Jonglieren genau im richtigen Alter und es bereitete ihm tatsächlich viel Freude, forderte ihn aber auch heraus; der dritte Ball kam erst Anfang März 2001 dazu. Davor hatte Clemens Schwierigkeiten, die Bälle loszulassen und danach kam die Phase, wo ihm immer wieder die innere Ruhe fehlte, so dass die Bälle vor ihm davonflogen! Aber schlussendlich hat es dann doch geklappt. Ebenfalls neu war die Beschäftigung mit dem Legespiel Tangram, wodurch sich die räumliche und die Kombinationsvorstellung verbessern können. Wie es Clemens mit dem Jonglieren und dem Tangram ergangen ist, beschreibt er ausführlich im Interview, Frage 9.

„Der bewegte Achter“ an der Tafel von oben nach unten und von unten nach oben ist eine Übung, die besonders das Mit-Denken und die Formkraft schult. Clemens hatte anfangs Richtungsprobleme, d. h. er verirrte sich durch die Auf- und Abwärtsbewegung des Achters im Ablauf des Zeichnens, was sich erst nach und nach auflöste. Beim Lesen und Schreiben machten wir verschiedene Übungen mit der Leseschablone und Clemens erlernte die Methode des Visualisierens von Wörtern. Zu Hause zeichnete er linierte Kärtchen ab, malte Mandalas aus und visualisierte solche Wörter, die er immer wieder nicht richtig schrieb. Vor den anderen Übungen sollte Clemens täglich die Atem- und Entspannungsübungen machen.

Mit der Μutter führte ich mehrere Gespräche zur Entwicklung ihres Sohnes. Im ersten Gespräch nach sechs Stunden sagte sie, dass er die Atem- und Entspannungsübungen ernst nehmen würde, sie aber aufgrund anderer Verpflichtungen oder wegen einer Klassenfahrt bisher nur unregelmäßig machen konnte. Sie erzählte auch vom Stress, den Clemens durch die vielen Tests in der Schule hatte. Außerdem ängstigte er sich vor einem Lehrer und war extrem unruhig und zappelig. Sie schätzte ein, dass er für die Erledigung der Hausaufgaben weniger Zeit benötigen würde. Durch diese Informationen konnte ich mein Bild von Clemens vervollständigen, was mir beim Zusammenstellen der Übungen für den zweiten Trainingsabschnitt (siehe oben) sehr hilfreich war. Das nächste Gespräch fand nach etwa neun Wochen, insgesamt 11 Stunden, statt. Die Atem- und Entspannungsübungen würde er nicht mehr so oft machen, jedoch die anderen Aufgaben inzwischen sehr selbstständig ausführen. Clemens hatte sich zu Hause bei einem Zusammenprall mit dem Vater die Halswirbelsäule verletzt, konnte deswegen einige Zeit nicht zur Schule gehen und wollte danach nur ungern dorthin zurück. Er befürchtete, aus dem Klassenverband ausgeschlossen zu sein! Sonst hätte sich Clemens‘ Selbstwertgefühl gesteigert und auch seine Leistungen hätten sich sowohl beim Lesen als auch beim Schreiben und in Mathematik verbessert. In Deutsch hatte er sich in einem Aufsatz „erstaunlich“ gut ausgedrückt und nur wenige Rechtschreibfehler gemacht, so dass die Arbeit mit Zwei bewertet wurde. In Mathematik hatte er eine fehlerfreie Arbeit abgeliefert. Die Familie ist sehr schön mit Clemens‘ Schulerfolgen umgegangen. Er wurde deswegen sehr gelobt und die Mutter meinte, dass er danach sichtbar stolz auf sich war und ihr auch etwas lockerer vorkam. Aus meiner Sicht ergänzte ich, dass ich Clemens bei mir sehr angespannt erlebt hatte, was ich eindeutig mit dem großen Leistungsdruck in der Schule in Zusammenhang brachte. Es wäre schön, wenn Clemens die Atemübungen wieder regelmäßiger machen würde, weil er genau diese entspannenden Übungen dringend benötigen würde. Insgesamt klang aber alles deutlich mehr nach positiver Veränderung als noch wenige Wochen vorher.

Unser letztes Gespräch führten wir nach 18 Stunden Ende März 2001. Die Trainingsmotivation sei nach wie vor recht gut; die Übungen und Aufgaben mache Clemens sehr selbstständig. Sein Gesamtbefinden sei jedoch nicht so gut. Er träume öfter von Explosionen und Bränden mit körperlichen Schäden. Zwei Gegebenheiten wiesen ganz deutlich auf Clemens‘ schlechte Träume und seine Sensibilität hin. Zum einen hatte er sich einen Finger so sehr verletzt, dass er eingegipst werden musste und zum andern herrschte in seiner Klasse kein gutes Klima. Es hatten sich zwei Gruppen gebildet und es gab zwei schwierige Kinder, worunter Clemens sehr litt. Von den schulischen Leistungen hatte sich besonders die Rechtschreibung weiter verbessert. Ich ergänzte das Bild von Clemens und stellte dazu, dass mir seine strategische Art zu lernen erneut aufgefallen sei und ich es als große Stärke bei ihm erlebe. Er hatte bei mir in allen Bereichen sehr große Fortschritte gemacht. Beim Lesen und Schreiben war er zwar immer noch nicht stressfrei, jedoch bedeutend ruhiger als zu Beginn unserer Arbeit im November 2000. Seine Schrift hatte sich verändert; sie war größer und harmonischer geworden und die Buchstaben waren gut zu unterscheiden. Wir beschlossen, dass Clemens noch sechs Stunden zu mir kommen sollte, in denen er u.a. eine sehr komplexe Rechtschreibübung kennenlernen würde.

Im dritten Trainingsabschnitt kam die „Kontrollhilfe“ zu den bisherigen Übungen neu dazu. Anstatt der täglichen Diktate, arbeitete Clemens damit auch zu Hause an der Verbesserung der Rechtschreibung. Während dieser Zeit las er Bücher von mir, über die wir uns in den Anfangsgesprächen austauschten. Immer wieder berichtete Clemens stolz von guten Noten, z.B. von einer Eins in Physik am 30. April 2001 und am 14. Mai von einer Zwei in Mathematik und dem ersten Deutschtest in der 1. Leistungsgruppe, in die er inzwischen aufgestuft worden war. Dies war unsere letzte, die 24. Stunde, und ich hatte ein gutes Gefühl, als ich mich von ihm verabschiedete. Er war gewachsen, körperlich stabiler geworden, ruhiger und selbstbewusster, was alles gute Voraussetzungen sind, um den wachsenden Anforderungen in der Schule und auch im sozialen Leben gerecht zu werden. Dass wir uns nach 10 ½ Jahren wiedersehen würden, ahnten wir damals beide nicht.

 

Anfang des Jahres 2012 trafen wir uns zu unserem Gespräch. Clemens, der mich offen und freundlich bei sich zu Hause begrüßte, ist etwa 1,80 Meter groß und sehr schlank. So wie damals, trägt er die Haare kurz und auf der Nase sitzt eine Brille. Nach Kaffee und Kuchen mit den Eltern zogen wir uns in sein ordentlich aufgeräumtes Zimmer zurück. Und hier sind Clemens‘ Antworten auf meine Fragen:

 

Interview mit Clemens am 02.01.2012

 

Bärbel Kahn I Grüß dich, Clemens! Schön, dass wir uns wiedersehen! Als ich im Mai 2011 von dir hörte, dass du einige Zeit davor mit deinen Eltern über mich gesprochen hattest, hat mich das sehr gefreut. Irgendwie lustig, dass wir ein halbes Jahr später miteinander telefoniert haben, was?

Clemens, dein Start in die Schule verlief nicht sehr gut. Du hattest Angst vor der Lehrerin, weil sie euch anschrie, mit euch schimpfte und viele Diktate schrieb. Du hast mit Bauchweh und Erbrechen reagiert und konntest abends nicht gut einschlafen. Bloß gut, dass deine Eltern dafür sorgten, dass du die Schule wechseln konntest. Trotzdem:

  1. Kannst du dich noch an diese Lehrerin erinnern und wie ging es dir dann in der Montessorischule?

Clemens I Also, ich kann mich noch sehr gut an die besagte Lehrerin erinnern. Sie ist mir sehr gut im Gedächtnis geblieben, weil das halt einfach ein schwerer Start in die Schule war und mich für die nächsten Jahre sehr gezeichnet und auch beeinflusst hat. Ich hab deswegen Schule immer wieder mit Angst verbunden und Unwohlsein und auch diesen Bauchschmerzen! Das hab ich noch bis in die Hauptschule oft gehabt und wir sind dann oft auch zum Doktor gangen, um das abzuklären. Alle haben gesagt: Das wird schon vorbei gehen. Aber das war für mich natürlich nicht so eine befriedigende Antwort. Der Start war also sehr schwer, aber ich war, glaub ich, nur bis zum Winter dort. Gott sei Dank haben mich dann meine Eltern aus der Schule und der Klasse rausgenommen. Danach bin ich an die Montessorischule kommen und das war dann wirklich so … ganz anders! Ganz anderes Zusammensein, ganz andere Klassengemeinschaft; das war die beste Entscheidung, die man hat machen können und hat mir da auch wahrscheinlich die Schule gerettet. Ich weiß nicht, wie das weitergangen wär in der vorigen Schule mit der Lehrerin! In der Montessorischule, das hat mir dann eigentlich schon recht gut gefallen, soweit ich mich erinnern kann. Man hat dort Freistunden gehabt und sich selber mit den Materialien beschäftigen können. Ich kann mich noch gut an die Lehrmaterialien erinnern – man hat sie angreifen können. Das von der Montessori entwickelte Mathematikmaterial hat man so richtig mit den Fingern abzählen können, die Zehner- und die Hunderterblöcke, die mit Perlen aufgefädelt waren, und auch die Buchstaben, dass wir die in den Sand hineingemalt haben. Das war ein Lernen, das mir sehr zugute kommen ist und das war eigentlich dann auch eine schöne Zeit, die Volksschule, unbeschwert eigentlich, hab ich die noch  in Erinnerung. Da hat man sich auch nicht viel Sorgen gemacht, ist einfach gut dahin gangen. In den ersten drei Klassen hats, glaub ich, auch keine Zeugnisse geben, das waren so Jahresberichte. Dann erst in der vierten Klasse hat man auch ein Zeugnis bekommen, und ja, also im Nachhinein betrachtet, ist das eine sehr gute Entscheidung gewesen von meinen Eltern.

BK I Wegen sprachlicher Auffälligkeiten wurdest du von Schulbeginn an einige Jahre logopädisch betreut. Später wurden einige Untersuchungen und auch psychologische Tests wegen deiner Rechtschreibprobleme mit dir durchgeführt. Beim letzten warst du zehn Jahre alt und da wurde dir bescheinigt, dass du ein gut durchschnittliches Kind seist, aber große Probleme mit dir und der Umwelt hättest und sehr unter einem mangelnden Selbstbewusstsein leiden würdest.

  1. Kannst du heute mit einem Abstand von 13 Jahren sagen, ob du dich wirklich so minderwertig gefühlt hast, wie die Ärzte meinten? Was haben diese Untersuchungen damals mit dir gemacht?

C I Sehr gut kann ich mich noch an den Sprachfehler mit dem s erinnern, mit dem ich mich sehr lang, sehr schwer getan hab, weil ich immer gelispelt hab. Da ist mir der Knoten lang nicht aufgangen; da haben wir viele Therapien gemacht, wie man das besser hat machen können. Da bin ich nicht wirklich drauf angesprungen. In der Montessorischule hats dann auch eine Logopädin mit mir probiert; das hab ich aber nicht allzu ernsthaft gemacht. Ich kann mich noch erinnern, dass ich die Hausaufgaben und die Übungen nicht gemacht hab und immer Geschichten erfunden hab, warum ich die nicht gemacht hab. An eine Geschichte kann ich mich noch gut erinnern. Ich hab gesagt, dass unser Hund, den wir gar nicht gehabt haben, die Hausaufgabe gefressen hat! (Wir lachen beide.) Da ist ihr dann der Kragen geplatzt und sie hat gesagt: Das hat keinen Sinn, wenn wir so weitermachen. Irgendwann sind wir noch zu einer weiteren Logopädin gangen und da ist mir dann wirklich innerhalb von a paar Sitzungen der Knoten aufgangen und ich hab endlich dieses Sprachproblem weggehabt! Ich kann mich noch erinnern, dass ich dann sehr stolz war, dass ich endlich das s so gut sprechen konnte. Manchmal hab ich das jetzt noch in der Nacht, dass ich aufwach und denk: Ich habs wieder verlernt. Dann bin ich ganz verunsichert und probier Sätze mit vielen s zu sprechen. Ich muss mich beruhigen und davon überzeugen, dass ich das noch richtig kann! So viel zum Sprachfehler…

Ansonsten kann ich mich noch erinnern, dass wir viel ausprobiert haben mit so verschiedensten Methoden und Einrichtungen. Ich weiß nicht, wie die eine geheißen hat, aber da hat man so viel mit Bewegungen gemacht. Da hab ich mich aber auch nie so wirklich wohl gefühlt. Es war nie so das Richtige für mich dabei, bis ich dann eben zu dir kommen bin, wo dann wirklich auch gut was voran gangen ist. Zu dem Minderwertigkeitsgefühl vielleicht noch. Ich hab mich eigentlich selbst, bis auf vielleicht den Sprachfehler, nicht so minderwertig gefühlt, hab das auch nicht von daheim so vermittelt bekommen. Auch, wenn ich mit meinem Freund unterwegs war, also, das war nie das Thema! Auch in der Montessorischule hab ich mich sehr gut eingegliedert und viele Freunde und wirklich auch viel Spaß gehabt. Also minderwertig hab ich mich in dem Sinne eigentlich nicht gefühlt.

Was haben die Untersuchungen damals mit mir gemacht? Mm, ich kann mich schon noch an ein paar Untersuchungen erinnern und an so ein paar Tests, aber das ist nur so schemenhaft, nichts Genaues eigentlich. Bemerkung: Es ist gut, dass sich Clemens nicht mehr so genau an alles erinnern kann. Es wäre wahrscheinlich nur belastend für ihn.

  1. Weißt du noch, dass du genau an deinem 12. Geburtstag, es war ein Freitag, zur ersten Übstunde zu mir gekommen bist? Das hat mir sehr imponiert und irgendwie hatte ich den Eindruck, dass die Not ziemlich groß war, oder?

C I Dass das genau an meinem Geburtstag war, als ich zur ersten Übstunden zu dir kommen bin, daran kann ich mich nicht erinnern. Die Not war vielleicht bei den Eltern größer als bei mir. Ich hab das damals auch gar nicht so mitbekommen; ich war in der Hauptschule in der 2. oder 3. Klasse. Da waren Deutsch, Englisch und Mathematik unterteilt in Leistungsgruppen und außer in Mathematik war ich sonst in der zweiten Gruppe, also in Mathematik in der ersten Gruppe. Da hat man dann schon drauf geschaut, wie es weitergeht nach der Hauptschule, und wenn man auf ein weiterführendes Gymnasium oder Oberstufe gehen wollte, dann hat man halt in der ersten Leistungsgruppe verpflichtend sein müssen. Klar, haben da meine Eltern die Not größer gesehen, dass man da was unternehmen muss, dass ich hochgestuft werd. Ich selbst hab sie als solche so nicht wahrgenommen und dass sie so dringend und groß war, dass ich an meinem 12. Geburtstag sogar angefangen hab mit den Übstunden! Es ist auch so, dass mein Geburtstag immer nach dem Staatsfeiertag am 26. Oktober ist und da war es auch schon oft so, dass wir ihn entweder vorher oder nachher gefeiert haben, weil meine Eltern sich da oft frei genommen hatten oder verreist waren. Deshalb war das für mich, glaub ich, gar nicht so einschneidend mit dem Geburtstag.

BK I Mir war aufgefallen, dass du „Atemprobleme“ hattest und dazu öfter verschnupft warst. Es gibt ein Sprichwort: Da bleibt einem die Luft weg. Darin liegt sehr viel Wahres, denn ohne Luft kann man nicht existieren. Schon deine Geburt verlief sehr schwierig. Als kleines Kind hattest du häufig schwere Bronchitis, dazu Mittelohrentzündungen. Beim Krabbeln bewegtest du dich rückwärts, nie vorwärts. Dann hattest du die Probleme mit dem s und schwer bist du auch in die Schule gestartet. Nichts wird dir geschenkt, du musst immer irgendwie kämpfen.

  1. Kannst du mit dem, was ich gesagt habe, etwas anfangen? Kommt es dir irgendwie bekannt vor?

C I Das kommt mir sehr gut bekannt vor, weil sich das eigentlich wirklich so durch mein Leben durchzieht. Auch kann ich mich gut erinnern, dass nach der Hauptschule das erste Jahr in der Oberstufe wieder sehr zäh war. Am Anfang hab ich mich in der Klasse nicht wirklich wohl gefühlt, hab schwer meinen Platz gefunden. Dann hab ich auch große Probleme in Deutsch gehabt, weil der Professor nicht anerkannt hat, dass ich Legastheniker bin. Meine Mutter hat sich mit ihm auch sehr zerstritten deswegen. Gott sei Dank hat der Lehrer das nicht auf mich übertragen, den Streit! So waren die ersten Deutsch-Schularbeiten negativ und auch in Englisch hab ich sehr viele Rechtschreibfehler gemacht. Also auch hier war der Start sehr holprig und sehr schwer; hab dann daheim sehr viel Diktate geübt, vor allem mit der Oma (wohnt im gleichen Haus) und hab ein Fehlerheft gehabt. Hab mich also wirklich durchkämpfen müssen. In den weiteren Klassen hab ich dann bei den Schularbeiten nur das unterste Limit Wörter geschrieben und in der restlichen Zeit alles mit dem Wörterbuch kontrolliert. Mein Ausdruck war nie schlecht, und dann hab ich da auch wirklich gute Klausuren geschrieben! Mündlich war ich immer sehr gut, weil ich von Kindheit an immer sehr viel gelesen hab; ich hab auch gut lesen können und mich gut ausdrücken können. Bei mir war das keine Leseschwäche, sondern eben nur die Rechtschreibung war sehr schwer.

BK I Aufgrund dieser Atemschwierigkeiten und weil du auch sehr angespannt warst, betrachtete ich es als meine erste Aufgabe, dir zu mehr Atem zu verhelfen und deine Mut-Kräfte zu stärken. Du lerntest dafür verschiedene Übungen, vor allem Sprachübungen, kennen.

  1. Welche Erinnerungen kommen dir und vielleicht kennst du noch den einen oder anderen Spruch?

C I Also auswendig kann ich keinen der Sprüche mehr, aber ich kann mich noch sehr gut erinnern, dass mir das großen Spaß gemacht hat und ich das dann auch gern vorgetragen hab. Am Anfang war ich wohl etwas verhalten, aber mit der Zeit hab ich die Sprüche, glaub ich, mit einem größeren Selbstbewusstsein vorgetragen.

BK I Eine von mehreren Aufgaben, die du zu Hause täglich von einer zur anderen Übstunde machen solltest, war, fortlaufende Formen zu zeichnen, was dir nach Aussage deiner Mutter anfangs ziemlich schwer gefallen ist. Später hast du Formen von Kärtchen abgezeichnet und Mandalas ausgemalt. Deine Schrift veränderte sich dann auch zum Positiven. Bemerkung: Wir sehen uns einige Zeichnungen an.

  1. Hast du damals irgendwie gemerkt, dass sich durch diese Übungen etwas bei dir verändert hat? Oder haben deine Eltern bzw. Lehrer etwas bemerkt?

C I Ich selbst hab eigentlich nichts bemerkt, sondern hab eigentlich nur das Feedback von meinen Eltern und Lehrern bekommen, dass ich auch in Deutsch dann in die erste Leistungsgruppe aufgestuft worden bin. Aber selbst hab ich eigentlich nichts bemerkt, dass sich da was verändert hat bei der Rechtschreibung oder so. Dass sich durch die Übungen da irgendwas verändert hat, kann ich jetzt nicht bestätigen.

BK I Du hast damals gerne gelesen, z.B. Harry Potter, und später hast du auch von mir Bücher bekommen. Das war sicherlich gut für deine Rechtschreibung, weil sich im Verlaufe der Zeit die richtig geschrieben Wörter einprägen und man nicht mehr überlegen muss, wie sie richtig geschrieben werden.

  1. Wie sieht es eigentlich heute mit dem Lesen und Schreiben aus? Wie geht es dir damit?

C I Auf der Uni hab ich immer Bedenken oder Angst davor, dass ich mich dort vor der Gruppe blamier, „wenn ich auf die Tafel rauskommen muss“ und was hinschreiben muss oder auch beim Plakateschreiben. Das ist mir bis heute noch unangenehm, dass ich da Fehler baue und dadurch so negativ auffalle. Und mit der Kontrollhilfe, die hab ich ganz vergessen gehabt, die ist mir jetzt wieder so ins Gedächtnis kommen. Jetzt schreib ich viel mit dem Laptop; also mit der Hand schreib ich nur noch meine Mitschriften und da ist es eigentlich egal dann mit den Rechtschreibfehlern.

Nach wie vor les ich sehr gerne Bücher in meiner Freizeit. Im letzten Jahr hat das a bissl abgenommen, weil ich für die Uni viel hab lesen müssen und die Lust am Abend dann nicht mehr so groß ist.

BK I Einmal erzähltest du, dass dein Vater mit dir zu Hause manchmal die Anfangsübungen mitmachen würde und er gemeint hätte, es ginge ihm hinterher besser.

  1. Kannst du dich daran erinnern und machst du vielleicht manchmal noch die eine oder andere Übung, auch solche für die Atmung?

C I Ich kann mich noch gut dran erinnern, dass mein Vater sich am Anfang oft mit dazu gestellt hat und vor allem die Atemübungen mitgemacht hat. Da hat man sich so einschätzen müssen auf der Skala, wie es einem vor den Übungen geht und danach. Und auch heute vor fast jeder Prüfung mach ich die Denkmütze mit den Ohren und erinner mich, wie ich das bei dir gelernt hab. An die „Nasenyoga“ (Atemübung) kann ich mich auch noch gut erinnern, mach ich aber so gut wie nie.

BK I Du hast auch jongliert bei mir.

  1. War das nicht komisch? Was sollte das mit richtig schreiben zu tun haben? Und ist dir, wenn du so zurückblickst, von unserer Arbeit etwas Besonderes geblieben?

C I Ja, das Jonglieren verwend ich heute noch gern und oft. Wenn ich mal eine Lernpause brauch und nicht den Fernseher einschalten will, weil ich dann zu lange davor hängen bleib, hol ich die Jonglierbälle raus, jonglier a bissl und probier noch dabei, locker den Stoff durchgehen zu lassen. Das hilft mir einfach zu entspannen; ich mach dabei das Fenster auf, damit frische Luft reinkommt. Und ansonsten? Das war eigentlich die Übung, die ich in den Alltag einbau, ja! Und komisch hab ich das Jonglieren eher nicht gefunden, weil ich schon so viele Übungen hab machen müssen und vielleicht den Sinn und Zweck dahinter gar nicht mehr hinterfragt hab.

Was ist mir Besonders geblieben? Ich kann mich da noch sehr gut an die eine Übung erinnern, wo man a Holzschachtel gehabt hat und auf dem Deckel, da war ein Muster gezeichnet. Und innen war genau das Muster nachgelegt mit ausgeschnittenen Holzteilen. Dann hat man die Teile rausgetan und versucht, sie genau in dem Muster wieder reinzulegen. Das weiß ich noch, dass mir das sehr schwer gefallen ist! Diese Übung ist mir deshalb so gut im Gedächtnis geblieben, weil mich das herausgefordert hat, es dann wirklich zu schaffen. Das haben wir später noch öfter gemacht mit anderen Figuren, aber am Anfang ist mir das wirklich schwer gefallen! Was mir noch im Gedächtnis geblieben ist, ist das Rückwärtsbuchstabieren zusammen mit den Bewegungen (vorwärts und rückwärts laufen und sprechen) und das Jonglieren, das ich wieder aufgegriffen und vertieft hab nach Jahren. An das Achterschreiben kann ich mich noch sehr gut erinnern. Ah, und die Rätsel, die ich aufbekommen hab! Das hat mich immer rausgefordert und Spaß gemacht, das zu lösen bis zur nächsten Übstunde oder auch nicht, auch mit meiner Familie da rumzurätseln. Was mir noch eingefallen ist, ist der „blaue Trainingskoffer“ (Easy Trainingskasten vom EÖDL) mit den Kärtchen und der Leseschablone mit den vier verschiedenen Farben. Da hat man auch rückwärts (den Text von hinten beginnen) lesen müssen und hat immer nur bestimmte Wörter gesehen.

BK I Als wir unsere Arbeit nach 6 ½ Monaten am 14. Mai 2001, 24 Übstunden, beendeten, hatte sich dein Gesamtbefinden deutlich verbessert, obwohl du immer viel Druck aus der Schule hattest. Es wurden sehr viele Arbeiten geschrieben und weil du ehrgeizig warst, hast du immer viel gelernt, oft auch an den Wochenenden. So bekamst du in den wichtigen Fächern und auch in Deutsch gute und sehr gute Noten. Das war ein sehr erfreuliches Ergebnis, die Frucht vieler zusätzlicher Bemühungen.

  1. Wie ist es für dich nach der Übungshauptschule weitergegangen? Du hast wohl deine Matura recht gut gemacht? Und was machst du jetzt und wo geht es hin, wenn du fertig bist, weißt du das schon?

C I Ich bin dann nach der Übungshauptschule in ein Privates Oberstufenrealgymnasium (PORG) mit musischem Schwerpunkt gangen, weil ich ja schon vier Jahre Schlagzeug gespielt hab und es da vertiefen konnte, was mir auch sehr viel geholfen hat fürs Selbstbewusstsein. In der ersten Klasse hab ich mich doch sehr schwer getan und nicht sehr wohl gefühlt und auch mit meiner Mutter überlegt, ob das überhaupt das Richtige für mich gewesen war, dort einzusteigen. Aber ab der 6. Klasse aufwärts hab ich mich sehr wohl gefühlt in der Schule. Es war eine sehr kleine, fast familiäre Schule, und auch in der Klasse hab ich sehr viele Freunde gehabt, wir haben viel Spaß gehabt. Man hat zwar auch viel lernen müssen, aber das ist mir dann recht gut von der Hand gangen. Das Erstaunliche war eigentlich dann, dass ich schlussendlich in Deutsch mündlich und schriftlich maturiert hab, schriftlich ist Pflicht, mündlich hab ich noch dazu genommen, weil ich eben mündlich so stark war. Hab auch ein gutes Verhältnis zum Deutschlehrer gehabt und dann mündlich mit Eins maturiert und das ganze Fach dann auch noch mit Eins abgeschlossen, Mathe mit Zwei und Englisch mit Drei, hab also a sehr gutes Reifezeugnis gehabt. Damit war ich sehr zufrieden, weil, die Matura war immer so ein weites, entferntes Ziel und ich hab gedacht: Das werd ich nie schaffen! Und auf einmal hat man sie dann gehabt! Ich war dann ganz überrascht und wahnsinnig glücklich, dass ich den Meilenstein dann doch erfolgreich gemeistert hab. Und danach hab ich gleich angefangen zu studiern, Wirtschaftswissenschaften. Da auch wiederum hat mir das erste Semester nicht gut gefallen; hab wenig Leute gekannt. Es hat kein Freund mit mir angefangen zu studiern. Es waren halt Massenveranstaltungen mit 600, 700 Leuten im Saal! Da ist man jedes Mal neben jemand anderem gesessen. Hab auch wieder gezweifelt, ob das das Richtige ist für mich. Ab dem 2. Semester ist es dann auch wieder besser geworden, hab immer mehr Leute kennengelernt, die Fächer sind interessanter geworden. Jetzt bin ich fast fertig, mir fehlen noch drei Prüfungen. Dann bin ich auch mit dem Studium fertig, auch eine Sache, wo ich gedacht hab, dass ich das nie werd abschließen. Das ist so weit entfernt und jetzt ist das Ziel immer näher gerückt. Nach dem Studium tät ich gern Praktika machen, am liebsten ein Jahr, um einfach a bissl Berufserfahrung zu bekommen, um reinzuschnuppern, was mir überhaupt gefällt und in welche Richtung ich mich vertiefen möcht. Danach möcht ich gern noch den Master machen.

Familiär sieht es so aus, dass ich gern mal von zu Haus ausziehen möcht, um selbstständig auf den Beinen zu stehn, um zu schauen, wie das überhaupt ist, wie ich mit dem zurechtkomm. Freunde: Kontakte halten, neue Freunde kennenlernen durch das neue Studium und hoffentlich noch genug Freizeit haben, um die mit Freunden verbringen zu können.

BK I Nun noch die zwei letzten Fragen:

  1. Clemens, was, glaubst du, kannst du vielleicht besser als andere Menschen, die du kennst? Welche besonderen Talente hast du?

C I Da ist mir auch durch den Hinweis von dir aufgefallen, dass ich doch sehr gerne präsentiere und vor Gruppen rede. Ich bin jetzt nicht so jemand, der sich in den Vordergrund drängt und immer die Aufmerksamkeit sucht und immer präsentieren will. Aber wenn ich das dann tun muss, tu ich das auch ganz gerne und kann das auch recht gut. Ich versuch schön und deutlich zu reden und hab auch schon oft das Feedback bekommen, dass das gut ankommt. Was sonst noch zu meinen besonderen Talenten zählt ist vielleicht, dass ich die Sachen anders seh und auf Kleinigkeiten und Details achte, die vielen Menschen gar nicht auffallen. Und weiter, dass ich mich gern mit einer Sache sehr gründlich beschäftige, also nicht nur so konsumiere, sondern dass ich mich länger damit intensiv auseinandersetz, nachhak und versuch das zu vertiefen und mich auch quer dazu informiere. Es haben mich schon Leute ganz verwundert gefragt, wo ich das denn jetzt schon wieder her hab!

  1. Stell dir das Jahr 2022 vor. Du bist dann 33 Jahre alt. Würdest du dich erneut von mir befragen lassen?

C I Ich kann mir durchaus vorstellen, dass ich mich in 10 Jahren nochmal von dir befragen lassen würd. Vor allem, weil ichs heute interessant gefunden hab, einfach nochmal drüber nachzudenken, wie das früher war und zu reflektieren was alles passiert ist. Ich tu das ganz gern, mich mit der Vergangenheit beschäftigen, und ohne dich hätt ich mich an Vieles gar nicht mehr erinnern können. Und das ist ja meine eigene Geschichte und das ist doch sehr interessant, wenn man die weiterhin verfolgt. Keine Ahnung, wo ich in 10 Jahren steh, bin schon sehr gespannt, 2022 ist noch a Zeitl hin. Hoffentlich hab ich dann meinen Master in der Tasche, vielleicht verheiratet, ich weiß es nicht. Aber ich könnt mir sehr gut vorstellen, dass ich mich dann nochmal befragen lass!

BK I Clemens, es hat mich sehr gefreut, mit dir so ausführlich reden zu können. Ich danke dir für das Interview und wünsche dir für die Zukunft alles Gute und für deine „Lebens-Kämpfe“ viel Mut, Kraft, Ausdauer und Zuversicht! Danke, Clemens!

Schlussbemerkungen

Es ist schon erstaunlich, wie schwer sich Clemens in neue Lebensabschnitte hineinfindet, oft auch mit Zweifeln verbunden. Bei unserm Gespräch haben wir einige Situationen etwas ausführlicher betrachtet. Was er bisher daraus gelernt hat ist, dass es sich lohnt durchzuhalten und dabei zu bleiben, darum zu kämpfen und nicht vorzeitig aufzugeben. Seine sensible und offene Art auf Menschen zuzugehen wird ihm dabei helfen, ebenso sein Ehrgeiz und seine strukturierte Arbeitsweise. Und vielleicht gelingt es ihm zukünftig, die Dinge mutiger anzugehen und dieses: Das werd ich nie schaffen! in ein: Ich kann was, ich schaff das! zu verwandeln. Ich bin sehr gespannt, wie es mit Clemens weitergeht und freue mich schon auf unser Wiedersehen in zehn Jahren.

zurück zur Inhaltsübersicht

       Kontakt

 

      Bärbel Kahn

      Philipsbornstraße 39

      30165 Hannover

 

      0176 82292497

      baerbel-kahn@gmx.de