Lukas

Am 4. Januar 2001 lernte ich den 12 ½ jährigen Lukas, der es mit dem Lesen und Schreiben etwas schwerer hatte, kennen. Er war nicht sehr groß, schmal und etwas blass. Das dunkelblonde Haar trug er kurz und durch seine Brille sah er mich mit hellen Augen neugierig an; die Hand gab er mir nur zögerlich. Lukas hatte im vergangenen Jahr einige Monate an einer Schule verbracht, wo er nach Aussage der Mutter gemobbt worden war. Er hatte eine schwere Zeit durchgemacht und die Eltern waren froh, dass er nach den Weihnachtsferien an seine „alte“ Schule, 3. Klasse Hauptschule, zurück wechseln konnte. Im Interview erwähnt Lukas diese Zeit nicht, so, als hätte es sie gar nicht gegeben. Doch vergessen hat er das, was sich damals ereignete, bestimmt nicht…

Lukas lebte mit seiner Familie in einem Einfamilienhaus in ländlicher Umgebung. Auf seine zwei Jahre jüngere Schwester war er manchmal etwas eifersüchtig, verstand sich aber sonst gut mit ihr. Der Vater ist von Beruf Geologe, die Mutter Dipl. Krankenschwester, die aber zu dieser Zeit zu Hause war. Nach einer normalen Geburt verlief Lukas‘ Bewegungsentwicklung unauffällig, jedoch war er erst mit 5 bis 5 ½ Jahren über Nacht „sauber“. Er konnte nie so richtig alleine spielen und war immer sehr anhänglich gewesen; vor neuen Situationen fühlte er sich stets unsicher. Lukas sei ein bewegungsfreudiges, talentiertes Kind; so hatte er an nur einem Nachmittag das Fahrradfahren erlernt. Und er sei emotional sehr aufmerksam; Stimmungen würde er sehr gut mitbekommen und auch ansprechen.

Bedingt durch den Beruf des Vaters musste die Familie häufig umziehen. Die ersten drei Lebensjahre verbrachte Lukas in der Schweiz und bis zu seinem 5. Lebensjahr lebte die Familie in den USA. Danach kehrte sie nach Tirol zurück, wo Lukas sehr gerne ein Jahr in den Kindergarten ging. Weil er noch so jung war, befürchteten die Eltern, dass er mit knapp 6 Jahren noch nicht reif genug für die Schule sei. Sie wollten Lukas für eine Vorschulklasse anmelden und ließen ihn schulpsychologisch untersuchen. Der Antrag wurde jedoch abgelehnt mit der Begründung, er sei intelligent genug. Für seine Eltern war das ziemlich frustrierend und sehr unbefriedigend, doch konnten sie nichts dagegen unternehmen. So begann Lukas seine Schullaufbahn mit 6 Jahren und 2 Monaten. Welche Erinnerungen er selbst daran hat, erzählt er im Interview, Frage 4.

Von Anfang an hatte es Lukas mit dem Lesen und Schreiben nicht so einfach und sehr bald begann die Mutter täglich mit ihm zu lesen, was sie als mühevoll in Erinnerung hat, weil er ständig abschweifte und nicht bei der Sache blieb. Genutzt hatte es nur wenig. Da Lukas ein wenig lispelte, wurde er in der 1. Klasse Volksschule für kurze Zeit logopädisch betreut (siehe Clemens‘ Geschichte). Für die Hausaufgaben, die Lukas nie freiwillig machen wollte, benötigte er oft den ganzen Nachmittag, manchmal bis in den Abend hinein. Das ist eine sehr bekannte Verdrängungsstrategie! Immer wieder musste die Mutter Lukas zur Arbeit zurückholen. Doch wenn er sich mit einem Freund verabredet hatte, konnte er die Aufgaben ganz rasch erledigen!

Vom ersten Schultag an schrieb und zeichnete Lukas mit der linken Hand, gebrauchte aber sonst auch die rechte Hand sehr geschickt, z. B. beim Schneiden mit der Schere. Die Mutter hatte mir erzählt, dass ihr Vater ein Linkshänder gewesen sei, der aber zwangsweise umgeschult worden war. Später konnte er sowohl mit der rechten als auch mit der linken Hand schreiben. Bei der Überprüfung wollte ich deshalb auf Lukas‘ Körperdominanz, auf den vorrangigen Gebrauch der Hand, des Auges, des Ohres und des Fußes, besonders achten.

In unserem Gespräch erzählte mir Lukas, dass Werken, Mathematik, Geschichte und Religion Fächer seien, die ihm je nach Lehrer Spaß machen würden. Bücher würde er nur selten lesen und am wenigsten gut würde es ihm mit der Rechtschreibung gehen. Darüber schien Lukas nicht allzu bedrückt, so, als wenn das für ihn gar nicht so schlimm sei. Irgendwelche psychosomatischen Beschwerden, wie Kopfweh, Bauchweh o.ä. hätte er nicht; manchmal würde ihm im Auto etwas übel werden. In seiner Freizeit spiele er am liebsten Computer und begeistert zählte er mir einige Strategiespiele auf. Im Interview, Frage 5, geht Lukas ausführlich auf das Computerspielen ein. Viel Freude bereite ihm auch das Schlagzeugspielen, mit dem er ein halbes Jahr zuvor begonnen hatte.

Während des Gespräches war Lukas sehr aufgeregt; er sprach schnell, wenig konturiert und etwas nasal, wobei er mit seinem Gürtel herumspielte und mich häufig fragend anblickte. Offen erzählte er von seinen Träumen, konnte sich aber nicht zusammenreimen, was das mit Lesen oder Schreiben zu tun haben sollte. Nachdem wir uns unsere Geschichten über das Fahrradfahren lernen erzählt hatten, öffnete sich Lukas mehr und so konnten wir mit der Überprüfung beginnen.

Auge, Ohr und Fuß waren rechts dominant, doch gebrauchte Lukas überwiegend die linke Hand. Bei den Ballübungen aber warf und fing Lukas mit der rechten Hand geschickter, sicherer und genauer als mit der linken, so dass man von einer Beidhändigkeit bzw. labilen Händigkeit sprechen konnte. Die linke Hand fiel aus der ansonsten eindeutig rechten Körperdominanz wie „heraus“.

Bevor Lukas im optischen Wahrnehmungsbereich die Kärtchen abzuzeichnen begann, meinte er:

O Mann! So schön gerade kann ich das aber nicht! Bei den Horizontalen drehte er das Blatt schräg, so dass er sie fast als vertikale Linien zeichnen konnte. Dies konnte ich später immer wieder bei solchen

Kindern beobachten, deren Körperdominanz nicht gefestigt war. Und oft wird ihnen, so wie auch Lukas, im Auto übel, wenn es hoch und runter und rechts und links herum geht und noch dazu häufig gebremst und neu angefahren wird.

Lukas war mit seinen Zeichnungen dann doch recht zufrieden, wollte es aber von mir bestätigt haben. Ich erklärte ihm, dass es bei dieser und allen anderen Übungen, die er noch machen würde, nicht vorrangig um gute Ergebnisse gehen würde. Er solle einfach alles so gut wie möglich machen und wenn er etwas nicht so recht zu Stande brächte, dann hätten wir etwas, woran wir arbeiten könnten. Diese Erklärung leuchtete Lukas ein.

Die anderen optischen Teilbereiche absolvierte er rasch und leicht; wieder fragte er mich, ob es positiv oder negativ sei, wenn er mit beiden Händen nach den Kärtchen greifen würde. Solche und ähnliche Fragen stellte mir Lukas im Verlaufe unserer Arbeit immer wieder. Das hat zum einen etwas mit Neugier, aber auch mit Unsicherheit zu tun. So weit wie möglich bin ich stets darauf eingegangen, doch ist es nicht so einfach, einem 12-Jährigen Fragen und Bedenken kurz und nachvollziehbar zu beantworten. Außerdem ist es schwer, vorher zu sagen was durch eine Übung genau geschehen wird, weil die Wirkung bei jedem Menschen anders ist und wenn man allzu sehr darauf „lauert“, diese Wirkung eben gerade nicht eintritt.

Im akustischen Wahrnehmungsbereich konnte Lukas Reimwörter von sich nicht reimenden Wörtern nicht gut unterscheiden (differenziertes Hören). Noch auffälliger verhielt es sich mit der akustischen Serialität. Die Übung verläuft etwa so wie das Spiel: Ich packe in meinen Koffer. Bei zehn Wörtern zu einem Thema wusste Lukas schon ab dem dritten das vorhergehende Wort nicht mehr. Später ließ er Wörter weg und verwechselte die Reihenfolge, wobei er sehr angespannt war. Wenn man bedenkt, dass jeder Satz eine Aneinanderreihung von Wörtern ist, kann man vielleicht ermessen, wie es Lukas bei Diktaten ergangen sein muss! Dagegen war sein akustisches Gedächtnis sehr gut ausgebildet; einen kleinen Vierzeiler, ein bildhaftes Sprüchlein, hatte Lukas ganz rasch und mühelos erlernt.

Obwohl sich Lukas bemühte, zeigten sich bei einer komplexen seriellen Bewegungsübung einige Ungenauigkeiten.

Während des Zeichnens einer Linienspiegelung fiel mir sein Verhalten besonders auf: Er saß angespannt vorn auf der Stuhlkante, beide Füße waren auf den Spitzen nach innen eingedreht und der Mund ging ständig auf und zu. Heute weiß ich, dass es nicht abgebaute frühkindliche Reflexe waren, was ich damals noch nicht deuten konnte. Ich habe es gut wahrgenommen und aufgeschrieben, um es mit späterem Verhalten vergleichen zu können. Immer wieder machte ich auch bei anderen Kindern ähnliche Beobachtungen und bildete mich in einem intensiven Kurs fort. Heute kann ich Restreflexe erkennen und den Eltern Spezialisten empfehlen, die mit dem Kind arbeiten diese abzubauen. Beim Lesen konnte ich die so häufig vorkommenden Stress-Symptome wie feuchte Hände, unruhige Füße, flache Brustatmung, sehr leise und flüchtig über die Interpunktion hinweglesend, Buchstaben auslassend und Wörter fast verschluckend, beobachten. Lukas war sehr froh, als er damit fertig war, doch hatte er vor lauter Eile den Sinn nicht so gut verstanden. Beim Abschreiben war Lukas ebenfalls sehr angespannt. Längere und unbekannte Wörter schaute er öfter an; am Ende hatte er alles richtig geschrieben. Die Ansage stresste Lukas am meisten! Er bewegte sich unruhig auf dem Stuhl hin und her und redete und fragte viel; an einigen Stellen hielt er an und überlegte länger. Als ich ihn danach fragte, antwortete er, dass ihm bei manchen Buchstaben nicht einfiele, wie er aussehen würde. Überwiegend waren Lukas Regelfehler, aber auch einige akustische Fehler unterlaufen. Seine damalige Schreib- und auch Lesekompetenz entsprach ungefähr einem zehnjährigen Kind.

Auf Grund der Buchstaben-Unsicherheit hatte sich Lukas mehrfach verschrieben, durchgestrichen und drübergeschrieben, so dass trotz der gut geformten Buchstaben das Schriftbild insgesamt nicht sehr schön aussah. Die Zeilen verliefen fast gerade und die Wort- und Zeilenabstände waren so, dass man den Text gut lesen konnte; die „Schrift atmete“.

Beim Rechnen war Lukas freudig dabei. Ohne ein Zeichen von Anspannung löste er alle Aufgaben rasch, sicher und richtig. Das war ein guter Abschluss unserer ersten Begegnung!

Lukas hatte auf mich den Eindruck eines klugen, viel Wissen wollenden Kindes gemacht. Doch war er innerlich unsicher und angespannt, was sich durch äußere Unruhe ausdrückte. Die instabile Händigkeit und meine anderen Wahrnehmungen ließen mich erkennen, dass Lukas mit 6 Jahren zu früh eingeschult worden war! Wäre er noch ein Jahr in den Kindergarten gegangen, hätte er sich durch das Spielen leiblich weiterentwickeln und stabilisieren können.

Auch vorher schon hatte ich bei anderen Kindern ähnliche Beobachtungen gemacht und begonnen, mich ausführlich und umfassend mit der Thematik der Händigkeit und der Körperdominanz zu beschäftigen. Besonders durch Lukas wurde mir klar, dass der ständige Wechsel der Hände, das Hin- und Herschwanken zwischen Rechts und Links, eine innere Unruhe verursacht, die sich körperlich, meist  in den Füßen, manchmal auch über den ganzen Leib, und als Gleichgewichtsproblem ausdrückt. Seelisch erscheint die Instabilität als Stimmungsschwankung (Himmel hoch jauchzend, zu Tode betrübt) und geistig als Schwäche Entscheidungen zu treffen (heute ja, morgen nein). Die Probleme beim Lesen und Schreiben lernen sind nur ein Teil der Gesamtproblematik, aber sehr offensichtlich und dadurch „behandelbar“.

Anmerkung: Die Auswirkungen im Geistigen habe ich erst Jahre später durch die Arbeit mit jungen Erwachsenen erkennen und mit der Problematik der Körperinstabilität in Zusammenhang bringen können.

Im auswertenden Gespräch erläuterte ich der Mutter den Ablauf und die Ergebnisse der Überprüfung, wobei wir die instabile Körperdominanz und deren Auswirkungen auf das Gesamtbefinden (Unruhe und Angespanntheit, seelische Empfindsamkeit) und die Lese- und Schreibprobleme ihres Sohnes besonders betrachteten. Dass Lukas zu früh eingeschult worden war, hatten die Eltern ja befürchtet, doch waren ihre Bedenken nicht ernst genommen worden.

Zur Stabilisierung empfahl ich, bei Lukas die Schreibhand auf rechts umzustellen, so dass die Körperdominanz übereinstimmend auf der rechten Seite sein würde (Hand, Auge, Ohr und Fuß). Dabei wies ich auf mögliche Probleme hin und hob insbesondere hervor, dass ich den Prozess nur bis zum Sommer würde begleiten können, weil ich danach nach Deutschland zurückginge, dass aber bis dahin ein Anfang gemacht werden könne. Nur wenn die Eltern und auch Lukas damit einverstanden wären, wollte ich den Umstellungsprozess beginnen. Vor irgendwelchen Veränderungen wolle ich ihn aber noch etwas mehr beobachten. Wenige Tage später informierte mich die Mutter, dass alle, auch Lukas, damit einverstanden seien und sobald ich mir hinsichtlich der Umstellung sicher sei, damit beginnen könne.

Als Lukas am 11. Januar 2001 zur ersten Übstunde kam, erzählte er freudig von seiner alten Schule und dass er neben seinem besten Freund sitzen würde. Das war eine gute Nachricht, denn wenn sich Kinder zu Hause und auch in der Schule wohl fühlen, hat das ebenso auf jede zusätzliche, außerschulische Arbeit eine positive Wirkung. Lukas war nie außerschulisch betreut worden, mit Ausnahme einer kurzen logopädischen Arbeit und einer schulpsychologischen Untersuchung wegen seiner Schreib- und Leseschwierigkeiten. Alles war neu für ihn und so machte er die Aufmerksamkeits- und Entspannungsübungen sehr interessiert mit, die er dann auch täglich zu Hause, am besten vor den Hausübungen, machen sollte. Immer wieder fragte er mich, was das alles bedeutet und warum das jetzt so gemacht werden soll. Auch zum Thema labile Händigkeit stellte Lukas sehr interessierte Fragen, denn seine Mutter hatte ihm berichtet, dass ich darin die Hauptursache seiner Lese-und Schreibprobleme sehen würde. So ganz konnte Lukas in seinem Alter die Problematik sicherlich nicht erfassen, doch meinte er, man könne es ja mit der Umstellung probieren.

Noch in der ersten Stunde begann er das ABC von hinten zu erlernen, was er etwas verwunderlich fand, aber doch gut mitmachte, wie er auch im Interview, Frage 7, erzählt. Weil Lukas schnell und flüchtig mit leiser, dünner Stimme sprach, das „d“ und das „t“ und auch die anderen weichen und harten Konsonanten nicht gut unterschied, begannen wir mit verschiedenen Sprachübungen, z. B. „Der dicke Diener“ und „Tausend Tropfen“ sowie „Esel fressen Nesseln nicht“. Das gefiel ihm und so machte er von Stunde zu Stunde gute Fortschritte; seine Stimme wurde kräftiger und „mutiger“. Beim Erfassen der Buchstabenunsicherheit stellte sich heraus, dass es vor allen Dingen das „j“, das „w“ und das „r“ waren, manchmal aber auch noch andere Buchstaben. Lukas gab mir noch einen wichtigen Hinweis dazu. Er selber hatte diese Unsicherheit erst in der Hauptschule bemerkt, vorher nicht. So vermutete ich, dass es keine grundsätzliche Unsicherheit war, sondern etwas mit der Schreibmenge und dem daraus resultierenden Zeitdruck, der stark stressauslösend ist, zu tun hatte, was sich später als richtig herausstellte.

Nach wenigen Stunden, ich hatte Lukas gut beobachtet und war mir sicher, begannen wir mit den Übungen für die Umstellung. Sehr gerne malte er im Stehen einen großen liegenden Achter als Aquarell auf DIN A 2 Papier. Das Aquarellieren wirkt entspannend und beruhigend, so dass der Körper locker und aufnahmefähig für die Umstellung wird. Zuerst malte Lukas ihn mit der linken Hand, dann mit der rechten, kam in einen schönen Schwung und es sah geschickt aus! Er selber meinte, dass er sich dabei ganz wohl fühlen würde. In der zweiten Übstunde achte Lukas mit dem ganzen Körper noch etwas beweglicher mit, so dass er flüssiger über den Kreuzungspunkt malen konnte. Dazu begann er mit Links-Rechts-Spiegelungen an der Tafel, wieder mit der rechten Hand; auch hier sah es beim ersten Mal etwas ungeübt, aber nicht ungeschickt aus. Ich sagte ihm, er möge die Entspannungsübungen ernst nehmen und täglich ausführen, um den Prozess zu begleiten. Zudem würden sie ihm im Schulalltag helfen, mit den Anforderungen besser zurechtzukommen. In der Schule und bei den Hausaufgaben sollte Lukas zunächst weiterhin mit der linken Hand schreiben.

Über das Jonglieren, zunächst mit Tüchern, freute sich Lukas sehr. Er brachte seine eigenen von zu Hause mit und schon bald konnte er es. Wie beim Fahrradfahren lernen zeigte sich auch hier seine gute Bewegungs-Nachahmungsfähigkeit (hohe Körperintelligenz), wozu er sich im Interview, Frage 6, äußert. Am Ende unserer Übstunden machte Lukas Buchstaben-Überkreuz-Übungen (BÜÜ), bei denen mir sein gut ausgeprägter Sinn für Wörter auffiel. Den Weg, den die Augen nehmen mussten, konnte er sich rasch merken und er hielt sich an die gewählte Methode des Abstreichens und Aufschreibens der Buchstaben, so dass die BBÜ rasch schwerer und länger wurden. Die Rückblicke am Stundenende fielen verschieden aus; manchmal vollständig und sehr gut formuliert, manchmal „haspelig“ und unvollständig. Das hatte mit Lukas‘ Tagesverfassung, mit seiner Gestimmtheit, zu tun. Wenn es ihm gut ging und er sich wohl fühlte, gelangen ihm viele Übungen und auch der Rückblick sehr gut, sonst eben weniger.

Zwischen den Stunden zeichnete Lukas zu Hause mit der rechten Hand fortlaufende Formen in ein Heft. Da Lukas dazu neigte, alles sehr schnell zu machen, was beim Lesen allgemein dazu führt, dass man die Wörter als Ganzes überfliegt, aber die Details, die richtige Schreibweise, nicht genau erfasst, bekam er eine Leseschablone, mit deren Hilfe er den Text von hinten lesen sollte. Auf diese Art und Weise ist man „gezwungen“, jedes Wort einzeln und genau zu lesen, ohne den Sinn des Satzes vorwegzunehmen. Lukas meinte, dass dieses von hinten lesen mühsam für ihn sei – es war schon sehr gegen seine schnelle Art! Außerdem visualisierte Lukas zu Hause Wörter, wo er gut vorankam, wie mir die Mutter später bestätigte. Zur Verbesserung der akustischen Serialität fragte sie ihn Wortketten ab; die Themen dazu konnte sich Lukas selbst aussuchen.

Die tägliche Arbeit von Stunde zu Stunde wird nur von wenigen Kindern gerne ausgeführt, weil es eben immer zusätzlich zu den Hausübungen gemacht werden „muss“! (siehe Tonis Interview).

Dies bestätigte mir auch Lukas Mutter beim ersten Entwicklungsgespräch nach 6 Wochen am 26. Februar 2001. Immer wieder müsse sie Lukas „anstoßen“, mit den Übungen zu beginnen, worauf er frage: Warum soll ich sie machen, wozu nützen sie? Doch hatte er sich bisher immer überzeugen lassen und sie doch gemacht, nur nicht immer so ganz genau und geduldig. Seelisch würde es Lukas besser gehen, was sie auch mit dem Schulwechsel in Zusammenhang brachte. Und Lukas hatte begonnen, ein Buch zu lesen: Winnetou. An einem Tag hatte er 100 Seiten geschafft! Das war eine sehr schöne Botschaft, so wie auch diese: Seine Deutschlehrerin sei verständnisvoller als die vorige und Lukas hatte in einem Aufsatz nur wenige Fehler gemacht. Wir sprachen auch über die Umstellung der Händigkeit und alles sollte so wie bisher fortgesetzt werden.

Rückblickend kann ich mich erinnern, dass mir die gesamte Situation etwas diffus vorkam. Einige Anzeichen deuteten darauf hin, dass ein guter Prozess in Gang gekommen war, der aber, so schien es mir, durch Lukas‘ immer wieder hinterfragendes Verhalten wie abgebremst wurde. Was war da zu machen? Das habe ich mich später noch öfter gefragt, zu einem wirklichen Ergebnis bin ich aber nicht gekommen.

Der zweite Trainingsabschnitt dauerte bis Mitte April 2001. In dieser Zeit fielen mir bei den Anfangsgesprächen immer wieder Lukas‘ unruhige Füße auf, besonders, wenn er sich über etwas aufregte. Jonglieren konnte er inzwischen mit drei Bällen. Wieder hatte er es ohne größere Anstrengung erlernt, aber weil er innerlich immer noch nicht ruhig genug war und zu schnell handelte, flogen sie nach vorne weg und fielen herunter, worüber er nicht sehr glücklich war. Dieses Wegfliegen der Bälle und das oft vergebliche Hinterherhetzen, um sie doch noch zu erwischen, sind in der Tat ziemlich frustrierend, doch mir half es zu erkennen, welche Übung Lukas als nächstes brauchte. Er begann die Konzentration stärkende Astronautenübung (ASTRO) zu erlernen und schon nach wenigen Stunden konnte er diese komplexe Bewegungsübung gut und sicher ausführen. Fast jedes Mal fragte er mich, was die Übung bringen würde. Wie er heute darüber denkt, können Sie im Interview, Frage 7, nachlesen.

Das Zeichnen von Formen und das Aquarellieren mit rechts ging Lukas von Mal zu Mal leichter und geschickter von der Hand. So manches Mal sagte er beim Wasserfarbenmalen: Das geht richtig gut mit der rechten Hand. Also waren wir auf dem richtigen Weg!

Um seine Stimme zu kräftigen, sprach er nun Stabreime (Alliterationen), wobei bei jedem betonten Laut ein Stab geworfen und wieder gefangen werden musste. Wir begannen die Geschichte von Parzival zu lesen und Lukas suchte und schrieb seine Problemwörter heraus. Das sind solche Wörter, von denen er glaubte, sie nicht richtig schreiben zu können. Wir besprachen ihre Besonderheiten, Lukas visualisierte sie und anschließend diktierte ich sie ihm. So hatte Lukas am 15. März von 17 Wörtern 15 richtig geschrieben und schön noch dazu, worüber er sich natürlich sehr freute.

Beim Rückblick am Stundenende konnte ich wahrnehmen, dass nach den Entspannungs- und Bewegungsübungen, der ASTRO-Übung und dem Aquarellieren Lukas körperlich völlig entspannt und innerlich ruhig war, was mir vorher bei noch keinem anderen Kind so aufgefallen war und auch später nur selten in diesem Ausmaß.

Das zweite Gespräch mit der Mutter Mitte April 2001 verlief einerseits erfreulich, denn sie hatte viel Gutes zu berichten, andererseits gab es auch Bedenkliches. Lukas begann das tägliche Training immer mehr abzulehnen, besonders die Aufmerksamkeits- und Entspannungsübungen, die er aus meiner Sicht so dringend benötigte. Auch die anderen Übungen würde er nicht mehr so genau nehmen, z. B. das Jonglieren. Ganz gerne würde er noch die Wörter visualisieren und die Formen mit der rechten Hand in das Heft zeichnen. Die Mutter hob hervor, dass ihr Lukas vom Wesen her stabiler vorkam, sich allgemein mehr zutrauen würde und sich recht gut einschätzen könne. In Deutsch hatte er in der 2. Leistungsgruppe bei einer Zusammenfassung nur einen „richtigen“ Rechtschreibfehler gemacht und eine gute „Zwei“ bekommen. Lukas hatte mir das bereits erzählt und ich konnte mich gut an seine Freude erinnern! Ich berichtete von seiner äußeren Unruhe zu Stundenbeginn, besonders in den Füßen, und dass ihm die Entspannungs- und Bewegungsübungen, das Aquarellieren, das fast seine liebste Übung geworden war, und die ASTRO-Übung dabei halfen, ruhig zu werden, so dass er beim Lesen und Schreiben gut voran gekommen war. Lukas hatte sich insgesamt gut entwickelt, was sich leistungsmäßig anfänglich auszudrücken begann. Zur Stabilisierung des Erreichten und zur Fortsetzung des Umstellungsprozess vereinbarten wir, dass Lukas noch bis zum Juni d. J. zu mir kommen sollte.

Der dritte Trainingsabschnitt dauerte vom 19.04. bis zum 6.06.2001. Wie auch schon die Zeit davor, kam Lukas sehr regelmäßig. Die Aufmerksamkeits- und Entspannungsübungen führte er bei mir selbstständig und gut aus. Das Wasserfarbenmalen, die ASTRO-Übung und das Jonglieren begleiteten Lukas bis zum Schluss, genau wie die Buchstaben-Überkreuz-Übung und der Stundenrückblick. Neu dazu kamen eine Anti-Stress-Übung, die Lukas von Stunde zu Stunde deutlich sicherer ausführte, und die Arbeit mit der „Kontrollhilfe“ als Anleitung zur selbstständigen Arbeit an der Rechtschreibung. Als nächster Schritt im Umstellungsprozess begann Lukas mit der rechten Hand anstatt der Formen Buchstaben mit einer breiten Feder „schön“ in ein gesondertes Heft zu schreiben. Mit dieser Arbeit begannen wir immer in den Stunden, Lukas setze sie zu Hause fort und brachte die Ergebnisse zur nächsten Stunde mit, so dass wir darüber reden konnten.

In der 18. und letzten Stunde besprachen wir rückblickend unsere Arbeit und Lukas meinte, das Jonglieren, das Aquarellieren und die Anti-Stress-Übung hätten ihm am besten gefallen. Hinsichtlich der Handumstellung äußerte er sich eher skeptisch, was verständlich war, da ich ihn nicht weiter begleiten konnte. Als wir uns verabschiedeten, die Aufmerksamkeits- und Entspannungsübungen, die ASTRO-Übung und die Kontrollhilfe hatte ich Lukas noch einmal besonders ans Herz gelegt, ebenso das Schreiben der Buchstaben mit der rechten Hand, ging er ganz befriedigt und erleichtert davon.

Lukas war gewachsen, entspannter, ruhiger und selbstsicherer geworden und hatte sich in den Wahrnehmungsbereichen deutlich verbessern können. Die verschiedenen Sprach,- Schreib- und Leseübungen hatten dazu beigetragen, dass er in der Schule recht gut mitkam. In der Kürze der Zeit, nur 5 Monate, war das aus meiner Sicht eine gute Entwicklung. Beim Umstellen der Schreibhand auf rechts hatte Lukas viel geschafft, aber der Prozess war noch nicht abgeschlossen. Im Abschlussbericht empfahl ich den Eltern, Lukas möge über die Ferien das „Schönschreiben“ der Buchstaben fortsetzen und ab dem kommenden Schuljahr in Abstimmung mit dem Klassenvorstand versuchen, in der Schule mit der rechten Hand zu schreiben.

Als wir uns im Frühjahr 2011 nach 10 Jahren das erste Mal am Telefon sprachen, erzählte mir Lukas, er hätte sich nach unserer Arbeit sehr gründlich mit der Hand-Thematik auseinandergesetzt. Er würde recht gerne bei meinem Buchprojekt mitmachen und freue sich, dass wir uns Ende des Jahres wiedersehen würden.

Am 27.12.2011 trafen wir uns in der gleichen Wohnung, in dem gleichen Raum, in dem wir 11 Jahre vorher miteinander gearbeitet hatten. Lukas, etwa 1,72 Meter groß, sehr schlank, mit etwas längeren Haaren, schaute sich neugierig um. Auf seine individuellen Fragen, die er vorher von mir bekommen hatte, hatte er sich intensiv und sogar schriftlich vorbereitet. Und das sind seine Antworten auf meine Fragen.

 

Interview mit Lukas am 27.12.2011

 

Bärbel Kahn I Grüß dich, Lukas, ich freue mich, dass wir uns heute zum Interview treffen. Schön, dass du bei meinem Buchprojekt mitmachst! Lass uns am besten gleich beginnen!

Am 4. Januar 2001, also vor fast genau 11 Jahren, habe ich dich wegen einer möglichen Lese-Rechtschreib-Schwäche überprüft.

  1. Als nach dem auswertenden Gespräch mit deiner Mutter feststand, dass du einmal in der Woche für eine Stunde zu mir kommen würdest und in der Zeit zwischen den Stunden auch noch täglich Aufgaben machen solltest, wie ging es dir damit?

Lukas I Also, ich war sicher neugierig, das kann ich sagen, und es war auch sehr ungewohnt, alles miteinander. Ich hab mich nicht leicht getan, das alles wirklich einzuschätzen, weil, du warst doch so eine gewisse Autorität, und das war komisch am Anfang, glaub ich. Weil ich auch Aufgaben machen sollte und das hatte so was lehrerartiges, was es dann doch wieder nicht war; also das war für mich sehr eigenartig.

Ganz genau, wie das Gefühl war, dass ich das jetzt machen muss, weiß ich nicht mehr. Ich wusste, dass das etwas Besonderes und meinen Eltern wichtig war, auch dass es mit finanziellem Aufwand verbunden war.

Einige Dinge haben mich auch verwundert, weil ich sie nicht einschätzen konnte, zum Beispiel, dass du mich gefragt hast, was ich für Träume habe und dass mir das komisch vorkam, weil du das aufgeschrieben hast. Vermutlich war ich verunsichert, weil ich nicht gewusst hab, wohin mich das führt und ob es mir wirklich helfen kann. Ich glaub ich war in der Phase, Sachen zu hinterfragen, z. B. Bringt das jetzt wirklich was, wenn ich das jetzt mach? oder Warum soll mir die eine Übung helfen, dass ich besser rechtschreiben kann?

 

BK I Du warst in den unteren Klassen bereits einmal von einer Schulpsychologin wegen deiner Schwierigkeiten überprüft worden, jedoch ohne irgendwelche Folgen. Die Volksschullehrer und auch der Lehrer der 3. Klasse Hauptschule, welcher lediglich diverses Lern- und Übungsmaterial empfahl, gingen nur wenig auf deine Lese-Schreibprobleme ein.

  1. Warst du eigentlich in deiner damaligen Klasse der Einzige mit diesen Schwierigkeiten? Wie hast du/habt ihr euch im Vergleich zu den anderen gefühlt?

L I Also ich glaub, dass ich sicher nicht der Einzige war mit Schwierigkeiten, allerdings ist es mir am Anfang in der Volksschule und zu Beginn der Hauptschule nicht so aufgefallen. Je nach Lehrer war es so, dass ich das Ganze mit der Rechtschreibung relativ gut umgangen hab. Ich bin sozusagen ein wenig mitgeschwommen und eher untergetaucht. Was sicher auch passiert ist, es war mir einfach klar, ich bin nicht wahnsinnig gut in der Rechtschreibung und das war dann halt einfach so! Ab dem Zeitpunkt, wo mir das so richtig bewusst war, war das auch gar nicht so schlimm. Während dessen hab ich mich sicher manchmal gefragt, warum das andere so viel leichter haben als ich. Aber der Schwerpunkt war dann, Gott sei Dank, nicht nur darauf fixiert. Und was auch war, ist, dass ich sicher den Lenz geschoben hab, also eher ein fauler Typ war und deswegen es auch nicht als so wichtig erachtet hab, dafür jetzt viel zu üben, um die Rechtschreibung zu verbessern. Ich habs irgendwie geschafft, mich durchzuwurschteln. Ich glaub auch nicht, dass ich deswegen jetzt traumatisiert bin.

Ja, wegen dem Schulpsychologen, daran kann ich mich in keiner Weise irgendwie erinnern, dass ich überhaupt bei einem Schulpsychologen war. Keine Ahnung, die Mama wird‘s wissen! Also, das können wir glaub ich abhaken, das hat mir nicht geschadet.

BK I Wir wollen noch einmal auf die Zeit vor der Schule zurückblicken. Bei unserm ersten Gespräch erzählte deine Mutter, dass eure Familie, bedingt durch den Beruf deines Vaters, häufig umziehen musste. So hast du die ersten drei Lebensjahre in der Schweiz verbracht. Danach wohntet ihr in den USA, zuerst in Columbia, danach in Virginia, wo du ein Jahr eine englischsprachige Prescool, vergleichbar mit einem Kindergarten, besuchtest. Wieder zu Hause in Tirol, bist du noch ein Jahr in den Kindergarten gegangen.

  1. Wenn du das so hörst, kannst du dich noch an einiges erinnern? Und wie war es für dich, als ihr dann in Tirol richtig zu Hause wart und da bliebt?

L I Was mir wirklich übergeblieben ist aus dieser Zeit des vielen Hin- und Herumsiedelns ist eigentlich nunmehr aus diesem Jahr, das ich dort in den Kindergarten gangen bin, diese eine Freundin, die ich jetzt auch noch, selten, wirklich selten, aber doch eben immer wieder, sehe. Unsere Familien waren auch befreundet, deswegen ist das noch erhalten geblieben. Ansonsten kann ich mich an diese Zeit, außer an Fetzen von der Prescool, an so gut wie nix mehr erinnern. Aber meine Eltern erzählten mir, dass ich nie gerne dort bleiben wollte und wenn sie weggingen, ich immer sehr geweint haben soll. Wahrscheinlich, weil mir alles so fremd war – die Sprache, die Umgebung und was sie dort gemacht haben.

BK I Du warst im Juli 1994 gerade 6 Jahre alt geworden und bist dann gleich im September eingeschult worden.

  1. Wolltest du damals gerne zur Schule gehen und warum? Wie lange hielt die Freude an, wenn welche da war?

L I Ja, ich hab mich gefreut auf die Schule, war damals normal. Großeltern, Eltern, Onkel und Tanten: Na, nun geht’s gleich mal in die Schule! Da war irgendwie die Neugier geschürt, von wegen: Das ist jetzt ein großer Schritt. Ich glaub, das war was, was mich fasziniert und was mich interessiert hat. Das war für mich ein großer Schritt, so ist es mir damals schon vorgekommen, und weil eben alle das so aufgebauscht haben und so. Und ich war das älteste Enkelkind!

Ich kann mich jetzt nicht genau erinnern, wie lange ich gern zur Schule gangen bin. Ich hab eine sehr nette Klassengemeinschaft gehabt und die Lehrerin war auch nett zu mir, soweit ich mich erinnern kann. Ich hab mich sozial nicht belastet gefühlt, es hat mir auch nichts irgendwie die Freude am Lernen verdorben und ein schlechter Schüler war ich auch nicht. Ich war halt sicher sehr faul und die Mama hat mich immer antreiben müssen.

BK I In der Schule wolltest du von Anfang an deine Hausaufgaben nicht freiwillig machen; andere Dinge waren immer viel interessanter für dich. Und du hast viel Zeit dafür gebraucht; selbst in der Hauptschule hast du für die Aufgaben durch „Rumtrödelei“ manchmal den ganzen Nachmittag bis zum Abend gebraucht. Wenn du aber mit einem Freund zum Spielen verabredet warst, dann konnte es auch sehr schnell gehen!

  1. Wie lange war Spielen wichtig für dich? Was hast du/habt ihr gespielt?

L I Spielen war sicher bis rauf in die Hauptschule wichtig. Durch die Übersiedlung hahabhab ich so Spiele wie Räuber und Gendarm erst so mit 12 bis 14 Jahren gespielt, was andere vielleicht schon früher gemacht haben. Hab da auch den Umgang mit Mädels kennen gelernt, ja, das war schon wichtig damals. Das hat mir sehr gut getan, glaub ich, durch das Spielerische den natürlichen Umgang zu lernen! Für mich war es immer kompliziert, mich mit mir selber zu beschäftigen, bin sicher meinen Eltern über Gebühr auf die Nerven gangen. Das Legospielen, das Zusammenbauen, dass das dann funktioniert und haltet und sich irgendwas dreht und ein Zahnradl mit dem andern zusammenlauft, das hab ich mit dem Papa sehr viel zusammen gemacht. Das war was, was ich nicht so gut alleine hab machen können. Erst durch das Computer spielen hab ich mich alleine beschäftigen können. Damit hab ich in der Volksschulzeit angefangen und gemerkt, dass das immer wichtiger worden ist für mich. Ich weiß noch, dass ich damals mit einem Jungen befreundet war, weil der irgendein dolles Computerspiel gehabt hat. In der Hauptschule war der Computer dann auch relativ wichtig und ich hab eigentlich sehr viel von den vielleicht sonst sozialen Kontakten in den Hintergrund gedrängt. Und vielleicht noch viele andere Dinge, die ich sonst gemacht hätte, ein Musikinstrument spielen oder so, weil ein Loch dagewesen wär. Jetzt im Nachhinein ist das natürlich vergeudete Zeit, aber ich habs halt gemacht und extrem viele Stunden vor dem Gerät verbracht. Und irgendwann hab ichs geschafft, loszulassen; da bin ich recht froh drüber.

BK I Du hast an einem Nachmittag das Fahrradfahren gelernt. Als wir uns darüber unterhielten, erzählte ich dir auch meine Geschichte vom Radfahren lernen. Wir mussten ziemlich lachen. Du verfügst über eine hohe Körperintelligenz; das ist mir bei vielen Legasthenikern aufgefallen. Neben anderen sportlichen Aktivitäten bist du damals gerne geklettert. Da muss man sehr geschickt und kräftig sein und den eigenen Körperschwerpunkt gut spüren können. Und nun bist du zum Tänzer geworden, wie ich erfahren habe. Du hast ja auch einmal Schlagzeug gespielt und jetzt kommt beim Tanzen Musik und Rhythmus und Bewegung zusammen!

  1. Wie wichtig ist Bewegung für dich und was ist, wenn du dich, aus welchen Gründen auch immer, zu wenig bewegen kannst?

L I Ich muss sagen, dass ich nicht der bin, der sich jetzt extrem viel bewegen muss, damit er sich irgendwie ausgeglichen fühlt. Ich glaub halt, dass ich mich leicht tu, Bewegungen abzuschauen und zu erlernen, einfach das Nachahmen von Bewegungen, und auch das Detail der Bewegung, gerade jetzt beim Tanzen z. B. die Knackpunkte zu erkennen. Wo muss ich mich erheben? Wo muss ich das Gewicht richtig verlagern? Da kann man sagen: Das ist angelernt oder wie auch immer, vielleicht hats mir irgendwann auch einer gesagt und ich bin halt deswegen bewusster darauf zugegangen. Ich weiß es nicht, kann man schwer sagen, ob‘s einfach so da ist oder ob ich‘s jetzt bewusster mach…

Ansonsten, glaub ich, bin ich halt eher einer, ja, ich spiel gern mit Sachen rum. Also, das ist jetzt nicht krankhaft oder so, aber wenn man mir was in die Hand gibt, spiel ich damit herum, vor allen Dingen, wenn ich ein bisschen nervös bin. Ich beweg mich generell gerne. Das hilft mir eigentlich immer, wenn ich rumlauf und dazu laut sprech, wenn niemand da ist. Das hilft mir über die Bewegung vom Körperlichen ins Geistige zu kommen. Ich kann die Sachen besser sortieren, wenn ich sie laut höre und besser verarbeiten, wenn ich gehe, und komme so zielgerecht weiter.

BK I Du hast bei mir viele Bewegungsübungen gemacht, die dir ja liegen, jedoch wolltest du immer wissen, was geschehen würde und wozu das gut sein soll. Ich habe versucht, dir die Richtung anzugeben, doch manchmal warst du damit nicht so ganz zufrieden.

  1. An welche Bewegungsübungen kannst du dich noch erinnern? Welche davon hast du vielleicht doch gerne und welche weniger gerne gemacht und warum?

L I Ich kann mich noch an zwei Sachen erinnern, das ist das Jonglieren – das war lustig und das kann man zu Hause herzeigen: Schau mal, ich kann jonglieren. Das ist schon wichtig. Dazu hab ich einen Bezug gehabt. Und dann noch diese Astronautenübung; an den Hauptteil kann ich mich sicher noch erinnern und an das, was die Beine und Arme im Kanon gemacht haben, das weiß ich auch noch, hab sie auch z. B. vor Prüfungen gemacht. Aber mit Begeisterung hab ich grad diese Übung sicher nicht gemacht (Lukas lacht), auch wenn sie vermutlich jetzt im Nachhinein eine Supersache ist. (Wir hatten vorher über diese Übung gesprochen und ich hatte sie vorgezeigt.) Wenn ich sie jetzt machen würd, würd ich sie machen, weil ich jetzt weiß, worum es geht, und weil es nur zwei Minuten wären, die was ich jeden Tag investieren müsst. Ich mag Übungen, die kurz sind und auf Dauer einen Rieseneffekt haben! Und ja, an den liegenden Achter, genau! Das Motiv haben wir damals gezeichnet und mit Farben gemalt, glaub ich, und auch für die Hand-Auge-Koordination in die Luft gemalt. Und an das ABC kann ich mich jetzt auch erinnern, aber warum ich das hab machen müssen, hab ich bis heut nicht verstanden, auch das Zurückgehen. Es hat schon seine Berechtigung gehabt, das weiß ich noch… Ja, lustig, wenn man so darüber nachdenkt!

BK I Nun kommen wir zu deiner Linkshändigkeit. Aus Erfahrung weiß ich, heute noch besser als damals, dass eine gekreuzte Dominanz zwischen Auge und Hand, bei dir Hand links und Auge rechts, so gut wie immer zu Problemen beim Lesen und Schreiben führt. Und so war es ja auch bei dir. Keiner kann sagen, warum das so war, es war eben so. Deshalb haben wir versucht, natürlich mit Einverständnis deiner Eltern und nachdem ich ausführlich mit dir darüber gesprochen hatte, die Händigkeit zu verändern.

Im Frühjahr 2011 hatten wir nach 10 Jahren unseren ersten Kontakt am Telefon und du meintest sogleich, du hättest dich mit der Handthematik beschäftigt und seiest kein gutes Beispiel in dieser Hinsicht.

  1. Was hast du über die Thematik der Händigkeit erfahren und wie ist es dir mit dem Umstellen von links auf rechts gegangen?

L I Durch die Beschäftigung mit der Thematik in deinen Stunden war ich angeregt, das selber weiterzumachen. Ich hab versucht, Dinge nachzuvollziehen, sie zu hinterfragen, und hab sehr viel beobachtet, wie andere Menschen tun, wie ich selber viele Dinge mach, was ich mit links und was ich mit rechts angreif, wo ich mich sicherer fühl. Es ist ja so, dass man als Linkshänder generell rechts besser dran ist, als ein Rechtshänder, der links tun muss; das muss man einfach üben. Ich hab versucht, viele Dinge „auf beiden Seiten“ gleich gut zu können. Das hab ich eine ganze Zeit lang gemacht, bin dann aber davon abgekommen. Es war im Endeffekt doch zu viel und auf Dauer schafft man das, glaub ich, nicht. Und weil ich mich links sicherer und wohler gefühlt hab, ich war ja immer Linkshänder gewesen, bin das gewöhnt, dacht ich irgendwann: Das passt für mich! Und so ist es jetzt. Bemerkung: Es sollte eigentlich nur das Schreiben und Zeichnen auf die rechte Hand umgestellt werden; alle anderen Verrichtungen hätten so bleiben können. Vielleicht hatte ich mich da nicht richtig ausgedrückt. Außerdem ist so ein Umstellen ein sehr langwieriger Prozess und muss wirklich ständig begleitet werden, bis zum Schluss. Und das war in unserer Situation leider nicht möglich. Heute würde ich anders damit umgehen.

  1. Aber sag, wie geht es dir mit dem Schreiben und Lesen heute?

L I Dass schreiben und lesen ein notweniges Übel ist, wär zu viel gesagt, ich mach es halt. Ich kann einen Text lesen, das hab ich oft genug gemacht, schreiben ist auch kein Problem. Laut lesen ist heute immer noch nicht ganz einfach für mich, vor allen Dingen dann, wenn ich mich leicht unter Druck gesetzt fühl. Aber ich hab mich damit arrangiert. Die Leute haben das gewusst und später hab ich dann was Technisches gemacht, was mir auch besser liegt und mit Technik ist das nicht so wichtig. Auch Präsentationen; da denk ich manchmal: Furchtbar, wie Leute die Sachen präsentieren! Aber das ist Wurscht, es geht nur um den Inhalt. Und das ist auch heut so, dass ich rechtschreibmäßig wirklich nicht besonders gut drauf bin. Ich sag dann halt: Gut, das kann ich nicht und machs dann eben mit einem Kollegen, der das gut kann; der sagt mir das dann schnell an. Wenn ich skype, schreib oder chatte, dann kann ich immer via google checken, wenn ich mir irgendwo unsicher bin. Etwas peinlich ist es natürlich schon, wenn ich einfache Wörter falsch schreibe. Aber es ist für mich nicht belastend oder wirklich schlimm, also, wenn ich Germanistik studiern würd, wär das wirklich was anderes; hätt ich mir aber nie ausgesucht.

  1. Nachdem wir nun schon über einige Dinge, die in den 5 Monaten vom 11.01. bis 07.06.2001 geschehen sind, gesprochen haben: Was ist dir Besonderes von unserer Arbeit geblieben?

L I Natürlich ist mir das Bewusstsein für Links- und Rechtshändigkeit geblieben, das verdank ich unseren Stunden. Und auch, dass ich eben diese Rechtschreibschwäche hab und heute weiß, dass ich dafür etwas anderes besser kann oder mich i  i   rgendwo leichter tu, was ich damals sicher noch nicht so gesehen oder verstanden hab. Und ich hab auch erfahren, dass ich vermutlich nie spitzengut sein werd in der Rechtschreibung, wo ich vielleicht auch gar nicht so viel Energie einistecken muss oder Tränen, dass das nicht funktioniert, weil das einfach nicht meine Stärke ist. Und natürlich das Jonglieren und das körperbezogene Lernen, was ich vielleicht nicht so viel eingesetzt hab, wie es sinnvoll gewesen wär, aber das ist mir sicher geblieben.

  1. Wie bist du durch den Rest deiner Schulzeit gekommen und warum hast du dir gerade dieses Studium ausgesucht? Welche beruflichen Perspektiven könnten sich für dich ergeben, wenn du fertig bist?

L I Die Höhere Technische Lehranstalt (HTL) hat den Vorteil gehabt, dass der Schwerpunkt auf den Fächern gelegen ist, die mir einfach leichter fallen. Auf einmal war ich in der Klasse irgendwie der Viertbeste. In Deutsch hab ich eine Lehrerin gehabt, die hat auf die Rechtschreibung nicht so extrem Wert gelegt. Vom Inhalt, vom Wissen und Sachen miteinander verknüpfen, da war ich offensichtlich relativ gut und das hat mich dann motiviert. Aber leicht war es in Deutsch und Englisch nie für mich, hätte auch fast mal eine Wiederholungsprüfung im Herbst machen müssen. Bei der Matura selbst war ich dann ziemlich gut; von sechs Noten vier Einser, einen Zweier und einen Vierer in Deutsch. Ich glaub, das hat die Lehrer mehr aufgeregt, als mich, ich weiß auch nicht, warum. Ich hab gewusst, dass das nicht besonders gewesen ist und auch inhaltlich war es schwach, doch zum Glück hat die Deutschlehrerin die Rechtschreibung nicht so stark in die Bewertung einfließen lassen. Ja, dadurch bin ich eigentlich ziemlich gut durchkommen und war sicher kein schlechter Schüler.

Danach wollt ich eigentlich weg von der reinen Technik. Ich hatte währenddessen was mit Musik angefangen und war davon ziemlich fasziniert und hab auch gewusst, dass ich mathematisch-logisch gut war und damit was machen könnte. Deswegen hab ich mich beim Studium für diese Kombination von Elektrotechnik-Toningenieur entschieden. Dieser große Unterschied dazwischen, der fasziniert mich einfach, weil es zwei komplett verschiedene Welten sind! Das merkt man auf der Uni, das merkt man, wie unterschiedlich die Dozenten die Fächer unterrichten und wie der generelle Ansatz ist. Das ist komplett verschieden! (Lukas ist total begeistert.) Irgendwie so wie Yin und Yang. So Gegensätze haben mir schon immer gut gefallen, die sich dann gut ergänzen, das taugt mir. Auf der einen Seite Emotion und auf der andern Verstand und das miteinander verbinden, das hat mich fasziniert! Und für mich ist dieses Studium insofern das perfekte, weil es einfach echt genau das kombiniert. Jetzt bin ich im 7. Semester; zehn sind mindestens vorgesehen.

BK I Lukas, wir haben es gleich geschafft, doch eines möchte ich noch wissen.

  1. Was glaubst du, was kannst du vielleicht besser als andere Menschen, die du kennst? Welche besonderen Talente hast du?

L I Ich glaube mal auf jeden Fall, dass ich Sachen logisch gut miteinander verknüpfen kann, überhaupt sehr gut logisch denken kann. Deswegen bin ich auch an der HTL so gut mit dem Technischen zurechtgekommen. Ich versteh auch schnell so Muster und Modelle dahinter und kann sie auch relativ schnell woanders wieder einsetzen. Ich kann verhältnismäßig gut Dinge objektiv betrachten, abstrahier sie von irgendwelchen Gefühlslagen und kann sie darstellen, wie sie halt sind. Auf der anderen Seite kann ich Sachen gut emotional verstehen, eben diese Beziehung zwischen Verstand und Herz, Logischem und Emotionalem. Ich kann mich gut in andere Menschen reinversetzen und mir deren Gefühlsbeweggründe und Gefühlsumstände vorstellen, so dass ich mir Dinge erklären kann, die mir sonst vielleicht unerklärbar wären. Und zu guter Letzt: Ich glaub, dass ich einfach ein neugieriger Typ bin und ich hab für mich festgestellt, dass das die Eigenschaft ist, die mir zu meinem Wissen verhilft und mich auch sonst nach vorne bringt, ob beim Studium oder egal wo. Und das mag jetzt ungewohnt klingen, aber andere Menschen, die man neu kennen lernt, so sein lassen, wie sie sind, und dadurch neue Sichtweisen kennen lernen, darum bemühe ich mich.

  1. Würdest du dich von mir erneut befragen lassen, sagen wir in 10 Jahren? Was sagst du dazu?

L I Ja, natürlich lass ich mich noch mal befragen, außer, du schreibst jetzt völligen Blödsinn, aber das glaub ich jetzt nicht, dass du das jetzt tust! (Wir lachen beide). Ich seh jetzt keinen Grund, der dagegen spricht; das können wir gerne machen. War doch lustig, oder?

BK I Lukas, ich freue mich, dass wir uns so gut unterhalten haben und vielleicht war es auch für dich interessant. Für deine Zukunft wünsche ich dir alles Gute und ich bin wirklich gespannt, wie dein Leben weiter verlaufen wird. Alles Gute für dich!

Zusammenfassung

 

Das Umstellen der Schreibhand ist ein langwieriger und intensiver Prozess, der wirklich gut begleitet werden muss. Meine damalige Recherche hatte ergeben, dass es so einen Spezialisten in Tirol noch nicht gab, so dass ich mich entschloss, neben den anderen Hilfestellungen mit Lukas auch daran zu arbeiten. Zudem hatte ich die Hoffnung, dass nach meinem Weggehen mit Hilfe der Eltern und der Lehrer der so gut begonnene Umstellungsprozess fortgesetzt werden würde. Lukas hat sich ja dann auch weiter mit der Thematik beschäftigt, wie er im Interview, Frage 8, ausführt, doch hat er es irgendwie zu gut gemeint, indem er versuchte, alle Tätigkeiten mit beiden Händen gleich gut ausführen zu können, was so nicht gemeint war.

Heute würde ich Eltern in einer vergleichbaren Situation an einen externen Spezialisten verweisen, weil er zum einen die entsprechende Ausbildung und Erfahrung hat und zum andern das Kind dauernd begleiten kann.

Lukas hat mit dem Schreiben und Lesen seinen Frieden geschlossen, weil er weiß, dass beides nicht zu seinen Stärken zählt. Und weil er seine Talente gut kennt, Frage 12, hat er eine Studienrichtung gesucht und gefunden, in der er sie alle einbringen kann. Nach 7 Semestern ist Lukas‘ Motivation für das Studium der Elektrotechnik-Toningenieur immer noch sehr groß und ich glaube, dass er nach dem Abschluss ganz sicher etwas Beachtliches damit beginnen wird. Ein ganz wunderbarer Ausgleich zum Studium ist das Tanzen, von dem er begeistert erzählte, und so habe ich ihn innerlich und äußerlich in Bewegung erleben können. Mir kam vor: Lukas ist auf seinem Weg!

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