Katharina

 

Katharinas Vater ist Österreicher und ihre Mutter Amerikanerin, so dass sie, wie ihre zwei älteren Geschwister, zweisprachig aufwuchs. Die Familie lebt in einem traditionell errichteten Haus in einer schönen Gebirgsgegend, wo es damals Pferde und andere Tiere gab.

Die Mutter gab an, dass Katharina nicht gekrabbelt war; sie sei gerobbt und hätte sich rollend vorwärts bewegt. Wenn Kinder diesen Entwicklungsschritt auslassen oder zu wenig üben, stellen sich später fast immer Probleme beim Rechnen ein. So war es auch bei Katharina.

Ihre ersten Schritte allein machte die kleine Katharina etwas verzögert mit 15 Monaten. Sie sei ein gesundes, manchmal ein wenig launisches Kind gewesen. Ab dem fünften Lebensjahr besuchte Katharina für zwei Jahre den Kindergarten, bevor sie mit knapp 6 ½ Jahren in eine kleine Dorfschule ging. Schon hier fielen, im Vergleich zu anderen Fächern, ihre Leistungen in Mathematik auf.

Nach der vierjährigen Volksschulzeit wechselte sie an eine Waldorfschule, die auch ihre ältere Schwester besuchte. Damit verbunden war ein langer Schulweg mit dem Auto, was früher aufstehen und später heimkommen bedeutete, und auch weniger Zeit zum Spielen. An einer Waldorfschule wird das Bruchrechnen bereits in der 4. Klasse eingeführt, was Katharina durch den Schulwechsel verpasste.

Während dieser Zeit hospitierte ich mehrmals in der 6. Klasse, wo mir Katharina einmal besonders aufgefallen war. Die Lehrerin übte mit den Kindern ein Flötenstück ein. Wenig interessiert redeten mehrere Kinder miteinander und riefen quer durch die Klasse. Umsonst ermahnte die Lehrerin sie immer wieder zur Ruhe. Der Lärmpegel erreichte fast meine Schmerzgrenze. Da sah ich, wie sich Katharina, die mittendrin saß, kopfschüttelnd die Ohren zuhielt. Sie spielte einfach nicht mehr mit! Ich dachte: Recht hat Sie! Das ist wahrlich keine schöne Atmosphäre für Musik.

Manchmal soll Katharina zu Lehrern frech gewesen sein. Ob das stimmt, weiß ich nicht. Ich vermute, dass sie so ähnlich wie in der Musikstunde auf etwas reagiert hat, was durchaus provozierend wirken kann. Mir ist sie stets freundlich und respektvoll begegnet.

Inzwischen war Katharina 16 Jahre alt und besuchte die 10. Klasse eines Gymnasiums mit musischer Ausrichtung. Ihre Mutter und ich hatten vereinbart, dass sie mir selber sagen sollte, wo genau sie welche Hilfe benötigen würde.

An einem kalten Januartag 1999 kam Katharina zum ersten Mal zu mir. Ich öffnete die Wohnungstür und da stand sie - dick angezogen, mit roter Nase. Ich gab ihr die Hand und bat sie herein. Zögerlich reichte sie mir ihre Fingerspitzen und sah mir forschend ins Gesicht. Abwartend saß Katharina im Sessel und sah mich mit ihren dunklen, großen Augen distanziert und etwas skeptisch an. Ihr langes, dunkles, schön gekräuseltes Haar trug sie offen. Während sie mir erzählte, womit sie nicht gut zurechtkam, wärmte sie sich die Hände an der Teetasse.

Da waren Lücken im kleinen Einmalseins und Unsicherheiten beim Bruchrechnen. Schon Gekonntes vergaß sie wieder, wenn Neues dazu kam. Abstrakte Aufgabenstellungen konnte sie nur schwer oder gar nicht verstehen. Abends lag sie oft lange wach und ihr gingen tausend Gedanken durch den Kopf. Katharina hatte mit leiser und fast atemloser Stimme gesprochen. Dabei sah sie mich hoffnungsvoll, zugleich aber auch misstrauisch an, so, als glaube sie nicht, dass ich ihr würde helfen können.

So lange mir Katharina nicht vertraute, erschien es mir wenig sinnvoll, mit den Übungen zu beginnen. Ich weitete das Gespräch aus und erzählte ihr, dass die Mathematik aus der Musik geboren sei und Bewegung und Mathematik ganz eng zusammenhängen. Ich sprach über den Unterschied zwischen Zahlen und Buchstaben. Die Zahlen sind uns „bekannt“, wir tragen sie in uns, wohingegen die Buchstaben vereinbarte Zeichen oder Symbole sind, die wir zum Lesen und Schreiben völlig neu erlernen müssen. Ich zeigte ihr einige Zahlen-Gesetzmäßigkeiten, die, wenn man sie entdeckt, große Freude bereiten und sehr hilfreich sein können. Weiter erklärte ich ihr, dass unser Zahlensystem ein dekadisches ist, und wenn wir die Zehn als konkretes Ding verstehen, wir uns in der Zahlenwelt gut zurechtfinden können. Katharina hatte aufmerksam und interessiert zugehört und sich so weit geöffnet, dass wir die verbliebene Zeit für erste Übungen nutzen konnten.

Dieses vorsichtige Kennenlernen war für unsere spätere Arbeit sehr wichtig, denn ob und wie eine therapeutisch ausgerichtete Arbeit gelingt, hängt ganz besonders von der Begegnungsqualtität ab. Der Therapeut bzw. Lernbegleiter sollte offen sein für seelische Regungen, Sorgen und Nöte. Ein solches Wahrnehmen hilft ihm, zur richtigen Zeit die richtigen Worte und Hilfestellungen zu finden.

Eine Rechenschwäche ist weit komplizierter als eine Legasthenie bzw. eine Lese- Rechtschreib-Schwäche (LRS). Sie greift viel tiefer in die Persönlichkeit ein und löst oft Ängste aus, die die psychische und physische Gesundheit eines Menschen stark beeinträchtigen. Einsamkeits- und Minderwertigkeitsgefühle, Probleme mit dem Schlafen, der Atmung und der Haut, Albträume und Einnässen können die Folge sein.

Früher sagte man zu Kindern, die nicht gut rechnen konnten, sie seien dumm. Etwas davon ist immer noch in unserer Welt, obwohl es nachgewiesenermaßen nicht so ist. Wie oft müssen sich diese Kinder anhören: Wieso verstehst du das nicht? Das ist doch ganz einfach! Stell dich nicht so an! Jetzt komm, ich erklär es dir noch einmal! Hast du es immer noch nicht verstanden? Dabei verdrehen Eltern und Lehrer die Augen oder machen wegwerfende Handbewegungen. Was soll ein Kind mit solchen Verhaltensweisen anfangen? Was Katharina dazu sagt, lesen Sie im Interview, Frage 5. Immer wieder übte sie mehr als andere. Selbst in den Ferien investierte sie Zeit und Mühe, aber es änderte sich nichts oder nur so wenig, dass es kaum zu bemerken war. Mit genügend Zeit konnte sie zu Hause manches richtig rechnen. Doch unter Leistungs- und Zeitdruck ging in der Schule bei Tests oft gar nichts mehr. Das entmutigte sie und sie begann, wo immer es ging, dem Rechnen auszuweichen und eine Blockade aufzubauen. Je länger dieser Zustand anhielt, desto auswegloser erschien ihr ihre Situation. Irgendwann hatte sie eine fest gefügte, willensartige Barriere aufgerichtet.

Von Januar bis Ende April 1999 kam Katharina regelmäßig einmal in der Woche zu mir. Dazwischen machte sie zu Hause verschiedene Übungen. In unseren Stunden erlernte sie Aufmerksamkeits-, Entspannungs- sowie Atemübungen, wozu auch das Trampolinhüpfen gehört. Katharina begann mit Tüchern, später mit Bällen zu jonglieren, wodurch sie insbesondere das Loslassen und erneute, feste Zugreifen üben sollte. Eine ihr zunächst seltsam vorkommende Übung war das Vor- und Zurückgehen in Dreierschritten, wobei sie bei einer beliebigen Zahl, nur nicht bei einer aus der Dreierreihe, startete, z. B: ‚Geh von 8 bis über 100, vor und zurück‘. Durch gleichzeitiges Sprechen und Laufen wird die innere Beweglichkeit im Zahlenraum trainiert, beim Rückwärtslaufen noch dazu die Gedächtniskräfte. Katharina warf sich abwechselnd zwei kleine Bälle unter dem rechten und linken Bein hindurch nach oben und sagte dazu die Zweierreihe auf, wieder vorwärts und rückwärts, z. B. von 100 bis 150.

Später habe ich diese Übung so verändert, dass nur ein Ball verwendet wird. Die rechte Hand wirft unter dem rechten Bein nach links oben, die linke Hand fängt. Nun wirft die linke Hand unter dem linken Bein nach rechts oben, die rechte fängt. Der Linkshänder beginnt von links. Die Bewegungsspur ist ein liegender Achter, den ich die Kinder entdecken lasse. Die ganz Geschickten laufen noch dazu die Reihe vorwärts und auch wieder zurück. Was das an Atem braucht, ist nicht wenig! Mit dieser Ballübung können das ganze Einmaleins und auch andere Zahlenreihen, z. B. die Quadratzahlen, geübt werden

Für die nachfolgende ruhige Phase hatte ich für jede Stunde Aufgaben vorbereitet, die Katharina so rasch wie möglich und natürlich auch richtig, ausrechnen sollte. Es waren immer alle vier Grundrechenarten dabei und später auch Aufgaben mit Brüchen. Die vorangegangenen Bewegungsübungen waren vom Stundenaufbau gut gewählt und mit der Zeit rechnete Katharina immer flinker und sicherer. Daran schlossen sich die Reihen des kleinen Einmalseins an, welche auf großen runden Pappen bildhaft als geometrische Figuren und Zahlensterne dargestellt waren. Rasch entdeckte Katharina die Gesetzmäßigkeiten, wodurch ihr das Erlernen und Vertiefen der Reihen leichter fiel. Danach beschäftigten wir uns mit dem Bruchrechnen, zunächst gegenständlich, später ohne Materialien. Dazu führte Katharina ein separates Heft, in dem sie Regeln und Beispiele festhielt. Am Schluss der Stunde bekam sie neue Aufgaben für zu Hause, so ähnliche, wie sie sie bei mir kennengelernt hatte. Zusätzlich spiegelte sie auf Kästchenpapier kleine Kreuze oder auch Linien von links nach rechts oder von oben nach unten.

Vor dem Schlafengehen sollte Katharina ganz in Ruhe bei entspannender Musik und einem warmen Getränk an einem Mandala malen. Das sollte ihr helfen, besser in den Schlaf zu kommen. Doch sie konnte sich nicht vorstellen, dass ihr das tatsächlich helfen würde. Ich gab ihr ein Buch zum Thema, und sie malte! Die seelische Aufhellung Katharinas wird durch die Farbgestaltung der vier Mandalas sehr deutlich.

In den ersten Wochen machte Katharina überall gute Fortschritte. Anfang März bemerkten wir, dass sie fast alle Bewegungsübungen so sehr anstrengten, dass sie atemlos wurde. Danach fühlte sich Katharina wie aufgedreht. Sie war zu unruhig, um anschließend rechnen zu können. Das, was zu Beginn der Arbeit so gut zusammenpasste, stimmte nun nicht mehr.

Eine befreundete Therapeutin empfahl mir, mit Katharina Atemübungen zu machen. Ich erzählte ihr, weshalb eine tiefe Bauchatmung, besonders für junge Frauen, wichtig ist. In Frage 4 des Interviews spricht Katharina darüber. Weitere Atem-Übungen hat Ernst Stürmer in seinem Buch „ Atme dich gesund!“, ISBN 3-478-08582-9, beschrieben.

Von da an wurden die Stunden etwas ruhiger und wir hatten mehr Zeit für das „mathematische Handwerkszeug“. Damit ist der reine Umgang mit Zahlen - die vier Grundrechenarten einschließlich Bruchrechnen - gemeint. Ungewöhnliche Aufgabenstellungen sollten die Denkfähigkeit und die Vorstellungskraft schulen.

Einige Beispiele: In wie viele Teile muss ich 84 zerlegen, damit in jedem Teil 2, 4 oder 6 sind? Multipliziere 3 mit 12 und teile das Ergebnis so ein, dass zwei gleich große Teile entstehen.

Katharina lernte, die Ergebnisse einer seriellen Zahlenfolge mit der Aufgabenstellung zu verknüpfen. Man kann erst dann leicht dividieren, wenn man die Aufgabe und das Ergebnis weiß und rasch abrufbereit zur Verfügung stehen.

Außerdem gab ich ihr immer wieder Tipps zum „pfiffigen Rechnen“:

•             4 mal 16 ist genauso viel wie 8 mal 8 oder 4 mal 12 ist genauso 

               viel wie 8 mal 6 bzw. 6 mal 8

•           Eine Zahl mit 5 multipliziert ist immer die Hälfte der Reihe, z. B. 5-mal 8 gleich 80/2 gleich 40, 5-mal 9 gleich 90/2 gleich 45

•             6 mal 12 ist 5 mal 12 gleich 60 plus 12 gleich 72

•           Wird eine Zahl mit 9 multipliziert, dann besser von hinten beginnen, z. B. 9 mal 14 ist 10 mal 14 = 140 –  14 gleich 126

Katharina verwendete das Wort Quadratzahl, ohne zu wissen, was es wirklich bedeutet. Das Zeichnen von Linien, Flächen und Körpern half ihr, sich den Unterschied zwischen eindimensionalen, zweidimensionalen und dreidimensionalen Zahlen bildhaft vorzustellen und auch zu merken.

An dieser Stelle möchte ich auf einige Probleme des Mathematikunterrichtes eingehen:

  • Viele Kinder verwenden mathematische Begriffe, von denen sie keine, eine unvollständige oder sogar eine falsche Vorstellung haben. Beispiele dafür sind: Gerade und ungerade Zahlen – warum heißen sie so? Primzahlen, Quersumme, Vielfaches, Teiler, Vorgänger und Nachfolger, lateinische Begriffe für die vier Grundrechenarten, geometrische Begriffe usw. Das ist ein echtes Problem! Tauchen in Textaufgaben ein oder mehrere solcher Wörter auf, wird sich dem Kind der Sachverhalt trotz Grübelns nicht erschließen können. Manche Kinder raten, was gemeint sein könnte, manchmal richtig, oft aber auch falsch. Aufgrund von Negativerlebnissen beginnen sie sich vor jeder Arbeit zu fürchten. Sie schlafen schlecht, ihnen ist übel, sie haben Bauch- oder Kopfweh, manche werden sogar richtig krank und „müssen/dürfen“ zu Hause bleiben.
  • Zu selten werden Kinder mit Knobel- oder Forschungsaufgaben konfrontiert, die man mit Lust und Freude knacken kann. Begeistert entdecken sie z. B. die Gesetzmäßigkeiten der kleinen Zahlenreihen und erkennen, wie leicht sich dadurch großen Reihen bis 20 lernen lassen. Die Taschengeldaufgabe zeigt sehr schön, warum Rechnen können sinnvoll und wichtig ist: Eine Mutter redet mit ihrem Kind über das Taschengeld. Es soll sich erhöhen. Nun überlegt das Kind, ob es sich das Geld jede Woche oder doch lieber gleich für den ganzen Monat geben lassen soll. Die Mutter hat dem Kind die Entscheidung überlassen. Wie würden Sie sich entscheiden und warum?
  • Stattdessen rechnen die Kinder Aufgaben, die mit ihrem Leben oft nichts zu tun haben. Dass sie dann an den Sachverhalten berechtigterweise nicht wirklich interessiert sind und fehlerhafte Ergebnisse kaum erkennen, scheint verständlich.
  • Ein weiteres Problem ist die Methodik. Ein Lehrer erklärt meistens so, wie er denkt und wie er es früher als Kind gelernt hat. Andere Denkweisen und Erklärungsmöglichkeiten erwägt er nicht oder lässt sie wegen Zeitmangel außer Acht. Wollen Eltern, Geschwister, Großeltern, Tanten, Onkel u.a. zu Hause helfen, dann erklärt und rechnet ein jeder anders. Kommt dann noch ein Lehrerwechsel dazu, ist das Chaos perfekt. Einmal hatte ein Mädchen bis zur 5. Klasse fünf verschiedene Mathematiklehrer kennengelernt!
  • Komplexe Aufgaben werden oft wenig bildhaft dargestellt, so dass die Kinder nicht „sehen“ können, was sie rechnen sollen. Es fehlt ihnen die Vorstellung davon. Ein Beispiel dafür ist die Aufgabe vom Begrüßen und Händeschütteln: Jeden Morgen treffen sich 5 Kinder, um gemeinsam zur Schule zu gehen. Jeder gibt jedem zur Begrüßung die Hand. Wie oft geben sie sich insgesamt die Hände? Im Unterricht hatten meine ganz Schnellen sofort verschiedene Lösungen parat, z. B. 25-mal, weil es 5 mal 5 Kinder sind oder 20mal, weil der erste ja nicht mehr so oft die Hand geben muss, was der Realität schon etwas näher kommt, aber immer noch geraten ist, usw. Ich holte 5 Kinder nach vorn, die sich der Reihe nach die Hände gaben; die anderen zählten die Handschläge. Das Ergebnis war für alle erstaunlich. Man kann auch (nur) Namen farbig an eine Tafel schreiben und durchzählen. Zu welchem Ergebnis sind Sie auf die Schnelle gekommen?
  • Nicht unerwähnt möchte ich lassen, dass durch Krankheit Unterrichtsstoff gar nicht aufgenommen wird. Nach seiner Abwesenheit erhält das Kind oft Kopien. Für ausführliche Erklärungen reicht die Zeit nicht; das vertiefende Üben entfällt. Schlimmstenfalls muss ein Kind eine verpasste Arbeit allein nachschreiben.
  • Selten bemerkt ein Lehrer, wenn ein Kind träumt, nicht dabei ist, denn da sind ja immer die unruhigen, die auffälligen Schüler! Die gesamte Aufmerksamkeit des Kindes ist nach innen gerichtet, wofür es viele verschiedene Gründe geben kann. Rechenschwache Kinder immigrieren fast immer, weil sie wissen, dass sie es sowieso nicht verstehen oder sich nicht merken können.

Wie viel von dem damals bei Katharina zutraf, kann ich nicht sagen, aber den Aussagen Ihres Interviews nach müssen es einige Dinge gewesen sein.

Ende April 1999 hatte sich Katharina mit den Zahlen neu verbunden. Sie konnte das kleine Einmaleins, die Quadratzahlen und auch einige große Reihen auswendig. Sie hatte gelernt mit Brüchen zu rechnen, konnte geschickter und schneller im Kopf rechnen und Begriffe sicherer verwenden. Zudem hatte sie einige Antistressübungen kennengelernt und viele Anregungen und Literaturempfehlungen bekommen. Offen blieb die Schulung das bildhaften Gedächtnisses sowie der gesteigerten Merkfähigkeit für mathematische Inhalte.

Ein halbes Jahr später kam Katharina vom 9. November bis 15. Dezember 1999 dreimal zu mir. Sie hätte so viel zu tun, dass ihr die Zeit nicht ausreiche! Katharina wirkte verspannt und atemlos. Deshalb führte sie zunächst die ihr bekannten und sehr wirksamen Atem- und Entspannungsübungen durch. Wegen des Zeitmangels empfahl ich ihr, eine Woche lang ein Zeitkonto zu führen, woraus ersichtlich werden würde, wie viel Zeit sie wofür benötigt.

Die anschließenden Überprüfungen waren Katharina nicht angenehm. Sie las schnell und leise; die Interpunktion beachtete sie wenig; inhaltliche Fragen konnte sie kaum beantworten. Ihr bildhaftes Vorstellen sowie ihre Merkfähigkeit hatten sich nicht wesentlich verändert. Verschiedene Spachübungen sollten dazu beitragen, dies zu verbessern.

In der zweiten Stunde besprachen wir ihr Zeitkonto. Unerwartet waren „freie Zeiten“ sichtbar geworden, in denen Katharina „durchatmen“ konnte. Bis zur dritten Stunde führte sie die Arbeit am Zeitkonto fort und je nach Bedarf die Aufmerksamkeits- und Entspannungsübungen.

Auf Grund des Alters und der Situation dachte ich daran, Katharina mit einem Lerntagebuch vertraut zu machen, wozu es dann aber doch nicht mehr kam.

Wegen Erkrankung und organisatorischer Gründe konnte Katharina zwei Wochen nicht kommen. Mögliche Aufgaben besprachen wir telefonisch. In der folgenden, der dritten Stunde, erlernte Katharina neue Atem- und Entspannungsübungen. Am Schluss meinte sie, es würde ihr nun ganz gut gehen und sie würde meine Hilfe derzeit nicht weiter benötigen. Wir vereinbarten, dass sie sich melden würde, wenn sie neuen Bedarf hätte.

Fast 1 ½ Jahre später begann im Mai 2001 unsere dritte Arbeit. Inzwischen war Katharina 18 Jahre alt. Sie wirkte unsicher, konfus und nervös und wieder atemlos, was ich dem Augenkontakt, dem Händedruck und ihrer Stimme entnehmen konnte. Obwohl ich wegen meiner Übersiedlung nach Deutschland nur noch bis zum Juli Zeit hatte, wollte sich Katharina trotzdem von mir helfen lassen.

Sie eröffnete mir, sie hätte schon längere Zeit nicht nur vor Mathematikarbeiten permanent Angst, sondern auch vor allen anderen Prüfungssituationen. Und sie fürchtete sich vor dieser Angst, die immer größer und größer zu werden schien.

Es hatte sich bei Katharina eine Angst vor der Angst manifestiert, weshalb sie immens unter Druck stand. Ich fragte mich: Wie lange kann ein junger Mensch so einen Zustand aushalten? Katharina benötigte sofortige Hilfe! Obwohl ich keine ausgebildete Psychotherapeutin war, was ich ihr sagte, ließ sie sich auf die Arbeit mit mir ein.

Zum Lösen der größten Anspannung malte Katharina zunächst ein Stimmungsbild mit Wasserfarben. Danach erzählte ich ihr von Victor Frankl, dem österreichischen Neurologen und Psychiater, der die Logotherapie bzw. Existenzanalyse begründete und machte sie mit der Methode der „Paradoxen Intervention“ bekannt. Dabei wird eine angstmachende, beklemmende Situation durch verschiedene Stilmittel ironisiert und ins Gegenteil verkehrt. Ähnlich dem Dominoprinzip löst eine Situation die nächste aus. Gemeinsam erfanden wir eine komisch-lustige Geschichte, über deren Szenen wir herzhaft lachen mussten.

Beispiel gebend füge ich sie hier ein: Ein Lehrer schreibt etwas an die Tafel. Die Kinder schreiben den Text in ihr Heft; in der Klasse ist es ruhig. Da zerbricht die Kreide. Ein großes Stück fliegt über seine Schulter nach hinten. Er dreht sich um und schaut suchend, wohin es geflogen sein könnte. Er geht er einen Schritt vor. Dabei stößt er den vor ihm stehenden Stuhl um, auf dem seine offene Tasche steht. Es poltert! Die Kinder schauen erschrocken nach vorn. Der gesamte Tascheninhalt liegt ausgebreitet auf dem Boden, obenauf etwas sehr Persönliches, welches er geheim halten möchte. Er bückt sich, um es rasch aufzuheben. Da öffnet sich die Tür und ein Windstoß entführt genau diesen Gegenstand in die Klasse hinein. Verzweifelt stürzt der Lehrer hinterher. Dabei stolpert er über sein offenes Schuhband, fast stürzt er. Im letzten Augenblick hält er sich an einem Schüler fest, der laut aufschreit. Sich an seinem Kaugummi verschluckend läuft dieser rot an…

Wir hofften, es würde Katharina mit Hilfe der Geschichte gelingen, ihre Angst vor der Angst nach und nach abzubauen. Noch in der gleichen Stunde kreierten wir den Satz „Ich tue mein Bestes!“, den sich Katharina wie eine Affirmation laut vorsprechen oder auch nur denken konnte. So hätte sie dem „Ich schaffe es sowieso nicht.“ etwas Starkes entgegenzusetzen. Mit der Empfehlung, regelmäßig die Entspannungsübungen und abends zum besseren Einschlafen einen Tagesrückblick zu machen, entließ ich Katharina, die einen erleichterten und hoffnungsvollen Eindruck auf mich machte.

Obwohl Katharina stark erkältet war, kam sie zur nächsten Stunde. Sie war in echter Not! Wieder malte sie zum Entspannen ein Aquarellbild. Danach erlernte sie zum Kräftesammeln vor stressigen Situationen eine weitere Meditationsübung, die sie sehr dankbar aufnahm.

Trotz drückender Kopfschmerzen – es war föhnig – kam Katharina am 6. Juni 2001 zu unserer letzten Stunde. Nach einer Atemübung, einer Kopfmassage und der „Denkmütze“ ging es ihr spürbar besser. Sie malte mit Wasserfarben und machte eine Meditationsübung. Danach jonglierte sie mit zwei Bällen. Wir sprachen über ihre Ängste; der Zweifel neu war dazugekommen. Auch hier konnte ich ihr helfen, damit umzugehen. So endete unsere Arbeit. Von nun an musste sich Katharina selber weiterhelfen oder von jemand anderem Hilfe bekommen. Lesen Sie dazu im Interview, Frage 6.

Mitte Juli 2001 erhielt ich von Katharinas Mutter eine freudige Botschaft: Katharina hatte in den letzten zwei Arbeiten in Mathematik eine 3 und in Englisch eine 1 geschrieben. Ich konnte es fast nicht glauben.

Anfang März 2011 trafen wir uns in einem kleinen Hotel in der Nähe von Innsbruck. Es war ein herzliches Wiedersehen. Katharina ist etwa 1,60 Meter groß. Ihre ganze Erscheinung strahlte Freude und Stärke aus. Lesen Sie nun, was Katharina antwortete.

 

Interview mit Katharina am 06.03.2011

 

Bärbel Kahn I Grüß dich, Katharina! Nachdem ich im Sommer 2001 aus beruflichen Gründen nach Deutschland zurückgegangen war, habe ich das eine oder andere von dir gehört, dich jedoch nicht mehr gesehen oder gesprochen. Gut siehst du aus!

1.        Wie geht es dir?

Katharina I Prinzipiell sehr gut. Ich hab gerade eben was sehr Wichtiges in meinem Leben abgeschlossen. Darum fühl ich mich auch sehr erleichtert. Ich fühl mich aber auch oft unsicher, weil ich nicht genau weiß, wie es weiter geht. Bin grade in der Zeit, wo ich gewisse Entscheidungen treffen muss, bin noch nicht ganz sicher in welche Richtung. Hätt gern einen fixen Plan, aber den hab ich nicht ganz. Einerseits bin ich froh drum, andererseits tut´s mich oft verunsichern, je nach Tagesverfassung; kann sich innerhalb einer Viertelstunde verändern.

2.        Was machst du jetzt?

K I Ich hab grade meinen „Master in Frieden, Entwicklung, Sicherheit und internationale Konflikttransformation“ abgeschlossen. Das ist eigentlich ein englisches Studium. Trotzdem hab ich mich entschlossen, meine Masterthesis in Deutsch zu schreiben, was mich sehr gefreut hat. Ich bin auf Jobsuche! Und bin dabei herauszufinden, in welche Richtung es gehen wird.

BK I Zwischenfrage: Welche Möglichkeiten würden dir denn offen stehen? Welche Richtungen könntest du einschlagen?

K I Ganz viele! (Katharina lacht)

BK I Zählst du mal drei, vier dieser Möglichkeiten auf?

K I Dadurch, dass mein Studium davor, das „Bachelor in European Studies“, auch sehr weitläufig ist, also alle beide, könnt ich im Journalismus arbeiten. Ich hätt auch sehr gute Chancen irgendwo bei Friedenseinsätzen im Ausland, was ich aber nicht machen möcht. Es ist eben so divers. Ich könnt in der Politik arbeiten, in irgendwelchen Institutionen, ich könnt auch mit Jugendlichen arbeiten. Es ist eben ganz schwierig, weil ich jetzt wirklich die Richtung finden muss. Also, mit diesem Studium kann ich eigentlich alles machen, praktisch gesehen, was schön ist, aber auch schwierig! Viele, die jetzt abgeschlossen haben, arbeiten bei der EU, aber ich bin drauf gekommen, dass mich so große Organisationen nicht interessieren.

3.       Weißt du noch, wann und warum du bei mir warst?

K I Ich war damals bei dir, weil ich grad von der Waldorfschule ans Bundesoberstufenrealgymnasium (BORG) mit musischem Zweig gewechselt bin, wo ich mich seit Langem wieder einer Benotung hab aussetzen müssen und ich mich in Mathematik schwer getan hab. Und, ja, ich glaub, weil die Mama mich geschickt hat (wir lachen beide). Es war nicht unbedingt so, dass ich das selber erkannt hab, dass es da Schwierigkeiten gibt, die zum Lösen sind. Ich weiß, dass die Mama einfach gesagt hat: So, das wird dir gut tun. Und ich hab ihr damals vertraut und vertrau ihr bis jetzt und wenn sie meint, das ist gut für mich, dann probier ich das auch gerne aus.

4.         Woran kannst du dich erinnern?

K I Ja, erinnern kann ich mich noch ganz stark an die Atemübung, diese Malübung mit dem Kreis. Das weiß ich noch, dass ich kurzatmig werd, wenn ich aufgeregt bin. Dann probier ich über den Bauch zu atmen. Nach dem Malen bin ich auf der Matte oft mal fast eingeschlafen, das weiß ich auch noch (wir lachen beide). Erinnern kann ich mich auch noch ans Jonglieren und ans Trampolinhüpfen und dass wir das, was wir in der Stunde gemacht haben, am Ende versucht haben, rückwärts zu erinnern, was immer sehr schwierig war. Das probier ich jetzt noch manchmal vor dem Einschlafen. Ja, sonst kann ich mich an nichts weiter erinnern. Ich weiß, dass wir schon was mit Mathematik zu tun gehabt haben, aber ich glaub, das hab ich a bisserl verdrängt (wir lachen wieder beide).

An was ich mich noch erinnern kann ist, dass ich zeitweise sehr starke Prüfungsangst gehabt hab, vor allem bei Mathematik. Da hast du mir Übungen gezeigt, wodurch rechts und links verbunden werden (kinesiologische Übung zur Harmonisierung der rechten und linken Gehirnhälfte), so auf die Knie und so. Die hab ich dann immer vor Prüfungen auf dem Klo gemacht. Das hat sich dann während meiner Studienzeit und auch beim Bachelor noch durchgezogen. Ja, an das kann ich mich auch noch gut erinnern, das war sehr hilfreich. (kleine Pause) Und an Bücher, die du mir empfohlen hast!

BK I Im September 1989 wurdest du mit 6 ½ Jahre eingeschult und schon bald zeigten sich die ersten Schwierigkeiten beim Rechnen.

5.     Kannst du beschreiben wie es ist, wenn man rechnen will und es geht nicht?

K I Es war ziemlich nervig, es war richtig Nerv tötend, eigentlich. Weil, man denkt sich halt, man hat‘s ja doch irgendwie verstanden und so viel Nachhilfe genommen. Das geht ja, es geht auch oft bei den Hausübungen, aber dann geht’s halt wieder nicht und dann auch nicht so schnell, wie man‘s möcht. Ja, das hat mich schon damals in meinem Selbstbewusstsein ziemlich „eingeknackst“ und ich hab mich teilweise ziemlich blöd gefühlt, was nicht sehr angenehm war.

Vor allem dann im BORG hab ich mir gedacht: Das kann doch nicht sein, dass ich, vor allem, als ich eine Klasse hab wiederholen müssen: Das kann doch nicht sein! Nur wegen dem! Das gibts doch nicht! (Katharina ist sehr aufgeregt). Also ich mein, ich war prinzipiell in der Schule… Ich hab immer nur das Nötigste getan, weil ich in mehr eh keinen Sinn gesehn hab. Aber das hat mich dann richtig genervt! Und da hat halt mehr als das Nötigste dann auch nicht gereicht…

Ich weiß noch von der Volksschule, so ganz genau kann ich mich nicht erinnern, da ist aufgekommen, dass ich eine schlechtere Note bekommen hab in Mathe, was ja für die Volksschule ziemlich ein Schlag ins Gesicht ist, sozusagen, weil, ja, in der Volksschule ist es halt üblich, dass jeder einen Einser kriegt und ich hab halt einen Dreier gekriegt, ich glaub schon, dass es Mathe war. Und da hab ich schon so… Ja, da weiß ich noch, sie hat’s bestimmt nicht bös gemeint, dass meine Tante gesagt hat: Das gibt’s ja nicht, du bist ja ein gescheites Kind. Warum kannst du das nicht? Also streng dich doch mehr an!

Ja, es ist nicht fein, wenn man das eigentlich schon machen will. Aber ich hab auch nie so richtig den Sinn verstanden, warum ich das jetzt machen muss. Ich mein, es gibt Taschenrechner oder ich kann andere Menschen fragen, wenn ich mal was ausgerechnet haben muss und nicht so schnell hin bekomme. Und bei allen anderen Sachen hab ich mir immer gedacht: Das war mir immer so abstrakt, dass ich das sowieso nicht kapiert hab. Das ist das Gleiche wie physikalische Gesetze, die versteh ich auch nicht und probier auch gar nicht mehr, mich damit auseinanderzusetzen. Weil, das ist was, was ich nicht greifen kann und denk, das ist vielleicht auch gar nicht notwendig, dass ich es greifen kann. (längere Pause). Dafür versteh ich andere Sachen, wo ich einen Sinn drin sehe… (Kleine Pause).

Ja, wie es ist, wenn man rechnen will und es geht nicht… Ja, es ist ziemlich energieraubend, vor allem weil man nicht versteht, warum es nicht geht und dann, warum es überhaupt gehen sollte.

Und ich glaub, das hat sich dann lange Jahre hingezogen, dass, wenn ich was erreichen wollt, es aber nicht so schnell gangen ist, dann bin ich ziemlich schnell in Widerstand gangen. Hab gesagt: Das will ich gar nicht machen. Ich seh da keinen Sinn drin. Als ich gemerkt hab, das es von dem her kommen (sie meint ihre Erfahrungen im Umgang mit der Mathematik). Dieser ewige Kampf, das hat irrsinnig genervt! Die ganze Zeit, die ich investiert hab für etwas, was ich gar nicht machen wollt! Das war schon sehr frustrierend! Auch, wie ich die Sommerferien in der Nachhilfe verbracht hab, jeden Tag von 8 Uhr bis 12 Uhr. Ja, sich jeden Tag mit etwas beschäftigen, wo man keinen Sinn drin sieht, was einen wirklich nicht interessiert und weil es auch nicht angenehm ist, sich damit auseinanderzusetzen.

Bemerkung: Die Frage hat Katharina ziemlich aufgeregt. Alte, und keine schönen Erinnerungen, tauchten in ihr auf. Verletzungen deutete sie nur an, waren für mich aber deutlich spürbar.  Das bewegte uns beide sehr.

BK I Von Mitte Januar bis Ende April 1999 haben wir in 11 Stunden versucht, den fehlenden Stoff nachzuholen. In unserem ersten Gespräch erläuterte ich dir, warum Mathematik sehr viel mit Bewegung und Musik zu tun hat. Und so waren die Stunden auch sehr bewegt.

6.        Kannst du dich erinnern, ab wann sich für dich beim Rechnen etwas verändert hat und was es war?

K I Ich kann mich nicht genau erinnern, ab wann sich was verändert hat. Ich weiß aber noch, dass ich dann Nachhilfe hatte von einer Freundin meines Bruders. Die war irrsinnig gut, einfach ein Genie in Mathematik und Physik! Mit ihr hab ich mich ganz gut verstanden und wir haben immer erst eine Stunde über Gott und die Welt geredet; das hat sie meinen Eltern nicht verrechnet. Und danach war es sehr angenehm und dann haben wir erst mit Mathe begonnen und sie hat irrsinnig gut erklären können. Sie hat selber so eine Begeisterung gezeigt; das hat sich ein bisschen übertragen auf mich. Das war auch der Zeitpunkt, wo ich dann nicht mehr so viel Widerstand gehabt hab, wo ich mich ein wenig leichter getan hab, mich zu bemühen, gewisse Sachen zu verstehen, wo ich davor keinen Sinn drin gesehen hab.

Ja, mich haben einfach ihre Begeisterung fasziniert und auch ihre Geduld! Sie hat so viel Glauben in mich gehabt und so viel Vertrauen, ich hab nie das Gefühl gehabt, dass sie mich für blöd gehalten hätte. Sie hat bemerkt, dass es schwieriger ist für mich und hat versucht, irgendwie Wege zu finden, wie es leichter wird für mich, die schwierigen Rechnungen zu verstehen. Wenn der Bauer zwei Äpfel hat und einen weg gibt… Aber die Aufgaben werden ja komplizierter und alleine das schon zu verstehen!

Und da hab ich sogar auch mal einen Einser geschrieben in Mathe. Das war dann so richtig ein Riesenerfolgserlebnis und dann hab ich gedacht: Juhu, jetzt geht’s! Und dann ist es aber leider nicht weitergangen. Aber es war mal ein schönes Erfolgserlebnis und hat die Einstellung meiner Mathelehrerin, die noch sehr jung war, zum Positiven verändert. Die hat gesehen, dass das geht bei mir. Sie war sehr erstaunt, denn sie hat mich immer ein bisschen als faul betrachtet – zugegeben, ich war auch ein bisschen faul – aber sie hat nie richtig verstanden, dass es wirklich schwierig war für mich. Das (der Einser) hat viel verändert in ihrer Einstellung zu mir. Danach ist mir Vieles leichter gefallen, aber Manches auch wieder schwerer. Ich hab gedacht: Du hast doch schon einen Einser geschrieben, warum kommen jetzt wieder nur diese Fünfer und Vierer? Bei der schriftlichen Maturaprüfung bin ich dann durchgefallen und musste in die mündliche Prüfung. Nachdem mir in der Vorbereitungszeit eine Viertelstunde lang gar nichts eingefallen ist – da war alles blank – wollt ich gehen. Das hat die Mathelehrerin gemerkt und gesagt: Ich geb dir noch eine Viertelstunde. Das war sehr nett, aber ich bin dann trotzdem gangen, ich wollt nimmer. Ich glaub, 5 Monate später hab ich nochmal antreten müssen und das war halt auch wieder so was: Deswegen (Mathematik) die Matura nicht schaffen….Das war einfach Nerv tötend, ja!

Ich war so froh, dass ich eigentlich mit der Schule fertig war und dann halt wieder wegen dem Blödsinn. Und das Schlimme war, dass ich es hab gut können, auch in der Nachhilfe. Ich hab’s wirklich gut können, war überhaupt kein Problem. Aber dann in der Prüfungssituation ist es einfach nicht so gangen, wie ich‘ s hab können!

Und als ich dann in die Schule gangen bin, um zu fragen, ob ich bestanden hab, hat mir meine Mathelehrerin gesagt: Ja, ich kann dir nicht mehr sagen, du hast es geschafft. Dann hat sie mich angelächelt und gesagt: Ganz knapp! Es ist sich um einen halben Punkt ausgangen. Ich glaub halt, sie hat mir mit dem halben Punkt geholfen. Sie hat gemerkt, dass ich es kann, aber dann doch wieder nicht, dass da etwas anders ist, aber damit kann man umgehen. Und weil sie sehr jung war, nicht viel älter als ich, das glaub ich. Einfach war das für sie sicher nicht, denn die Arbeit schaut ja noch ein zweiter Professor an….

Wirklich, bezüglich auf das Rechnen hat sich nicht viel verändert, vielleicht ein bisschen was von meiner Einstellung zum Rechnen. Das, glaub ich, hat sich verändert.

BK I Abends konntest du oft nicht einschlafen und in Prüfungssituationen warst du gestresst und verspannt. Dadurch war deine Atmung dauerhaft flacher geworden. Damit aber der ganze Körper gut durchblutet wird, ist eine tiefe Bauchatmung nötig, infolgedessen man wieder gut entspannen kann. Ab Mitte März 2001 hast du dafür in jeder Stunde eine ganz spezielle Aquarell-Malübung ausgeführt. Weil sich bei dir eine Angst vor der Angst manifestiert hatte, lerntest du die paradoxe Intervention und Meditationsübungen kennen. Das Jonglieren mit Bällen brachte Leichtigkeit und Spaß. Am Ende der Stunde blickten wir auf unsere Arbeit zurück, von hinten nach vorne.

7.            Wie haben dir diese Übungen, die mit dem Rechnen nichts zu tun haben, geholfen?

K I An viele kann ich mich noch erinnern und zwar positiv und ich glaub, es hat mir persönlich  damals einfach geholfen andere Perspektiven zu bekommen, dass es nicht heißt, wenn man etwas nicht kann, dass man das dann stur stundenlang auswendig lernen muss, sondern, dass es verschiedene Methoden gibt, damit umzugehen. Also, das hat mir irrsinnig viel geholfen. Das Atmen, glaub ich, war existenziell für mich, weil, ich hab eben durch die Geschichte mit Mathe extreme Prüfungsangst entwickelt, die sich dann auf alle anderen Fächer auch noch ausgewirkt hat. Dieses Rechts und Links verbinden, was ich nicht ganz verstanden hab, aber du hast’s mir damals erklärt und es hat irgendwie Sinn gemacht und ich hab dir vertraut und hab das gemacht und es hat mir irrsinnig viel geholfen. Anstatt vor Prüfungen dazusitzen und panisch zu werden, bin ich auf die Toilette gangen in der Pause und hab die Links-Rechts-Übung gemacht. Das hat mich abgelenkt, nicht so tief in die Angst einizugehen, sondern einfach ruhig zu bleiben und auch zu spüren, dass mir das jetzt hilft. Also: Das ist jetzt gut für mich, wenn ich das jetzt mach. Ja, das hat mir viel geholfen (Katharina lacht aufatmend). Auch während des Bachelor-Studiums hab ich die Links-Rechts-Übung und die Atemübung immer wieder bei Prüfungen gemacht. Und ich glaub einfach, mir persönlich haben überhaupt die ganzen Übungen dann auch viel geholfen, mit meinem Widerstand umzugehen. Ich hab gelernt, dass mich Widerstand nicht bremsen muss, er stoppt mich nicht, es gibt Möglichkeiten, mit diesem Widerstand wie mit der Angst umzugehen. Ich hab dann später in diesem Bereich auch sehr viel gemacht, also an verschiedenen Kursen zur Selbsterfahrung teilgenommen. Ja, also die Übungen, die wir gemacht haben, haben halt meine Perspektive sehr verändert, überhaupt in meinem ganzen Leben mit verschiedenen Dingen umzugehen.

BK I Katharina, ich kann mich erinnern, dass du in den großen Ferien kellnern wolltest. Das hat ja nun wirklich viel mit Zahlen und rechnen zu tun.

8.            Wie ist es dir ergangen?

K I Nein, ich war nicht kellnern. Ich weiß nicht mehr warum, auf jeden Fall müsst das die Zeit gewesen sein, wo ich im Souveniergeschäft zu arbeiten begonnen hab. Ja, da hab ich auch die Kassa gemacht. Das war aber ein ganz kleines, gemütliches Geschäft und ich hab da immer brav mit dem Taschenrechner arbeiten können. Das war eh sogar erwünscht, weil, bevor man sich verrechnet und was falsch rausgibt. Da ist es gescheiter, wenn man mit dem Taschenrechner arbeitet. Ich hab aber dann später gekellnert. Das war dann schon nach der Matura. Da hab ich am Anfang, weil wir noch keine Computer hatten, immer mit dem Taschenrechner gearbeitet. Dafür bin ich oft belächelt worden, aber wenn ich mir nicht sicher bin, dann nimm ich halt den Taschenrechner. Ich versuch schon, immer erst im Kopf zu rechnen, wenn ich nicht grad sehr gestresst bin. Aber man hat ja heut auf jedem Handy einen Taschenrechner, dann rechne ich halt nach, ob‘s auch stimmt; ich sicher mich halt ab.

Und ich hab lustiger weise immer viel mit Geld zu tun gehabt. Ich war jahrelang Kellnerin und hab auch bei diversen Veranstaltungen den Kartenverkauf gemacht. Auch hab ich mehrere Winter beim Christkindlmarkt gearbeitet, wo ich auch kassieren musste. Ja, doch, war positiv. Ich hab mir gedacht, es ist kein Problem. Ich muss es nicht superschnell und superperfekt können und ich kann Hilfsmittel verwenden.

9.            Was hast du in dein Leben mitgenommen?

K I Als du mir die E-Mail geschrieben hast, dass du gerne das Interview mit mir machen willst, hab ich meinem Freund erzählt, was damals mit mir war. Da ist mir bewusst geworden, an wie wenig ich mich nur erinnern kann, aber wie viel ich von damals mitgenommen hab in eine spätere Zeit. Also erstens, was mir jetzt sehr klar ist, was ich wirklich gelernt hab, ist, nicht aufzugeben. Das Wichtigste für mich war, das Rechnen nicht als unbewältigbares Problem anzusehen. Es war zwar ein ewiger Kampf, aber letztendlich hat es sich für mich rentiert, dass ich trotz allem die Matura geschafft hab. Und auch sehr, sehr wichtig war für mich, dass ich die Bedeutung der Atmung erkannt hab. Ich hab realisiert, wie schlimm das ist, wenn man nur so kurz atmet, wie sich das auf alles auswirken kann.

Bemerkung:  Katharina spricht über die Hilfe, die sie von Ihren Eltern bekommen hat.

K I Überhaupt, was mir auch erst jetzt im Nachhinein so richtig klar geworden ist, was für Unterstützung ich von meinen Eltern bekommen hab. Sie haben mir immer geholfen, grad, dass ich nicht aufgeb. Sie haben mich nie gezwungen, aber sie haben immer probiert, mich zu unterstützen und wenn es geheißen hat, dass sie Geld ausgeben für Nachhilfe ohne Ende, die letztendlich nix gebracht hat und auch nicht fein war für mich.

Bemerkung: Katharina erzählt, wie frei sie sich nach der bestandenen Matura fühlte.

K I Als ich nach der Matura in Spanien war, da hab ich die Zeit wirklich gebraucht, mich von meiner Schulerfahrung zu erholen, einfach wieder zu leben und am Tag das zu machen, was für mich wichtig ist. Ja, ich hab mich da wirklich frei gefühlt; das war eine wunderschöne Zeit…Und dann bin ich in ein Studium kommen nach Holland, was auch interessant war. Ich hab das Studium damals deshalb ausgesucht, weil es so toll ist. Man trifft sich zweimal die Woche mit einer Gruppe und spricht den Stoff durch, was ich persönlich für meine Lernwünsche sehr gut gefunden hab, auch im Gegensatz zum Frontalunterricht. Ganz viele Zufälle in dieser Zeit haben mich dahin geführt, dass ich mich in Selbsterfahrungskursen damit beschäftigt hab, was es eigentlich bedeutet, mit Widerständen umzugehen, mit seinen Verhaltensmustern. Später hab ich mich dann auch ganz stark mit Meditation auseinandergesetzt. Ja, ich glaub halt schon, dass mir das damals, wo ich mit dir zusammen gearbeitet hab, dass mir das so viel geholfen hat zu sehen, dass es einfach mehrere Herangehensweisen gibt für etwas und nicht nur eine Möglichkeit. Und eben, dass man halt herausfinden kann, was einem gerade hilft in dem Moment. Das Rechnen und die ganze Schulerfahrung waren letztendlich für mich nicht so eine schlechte Erfahrung, weil ich es unter der Perspektive sehen kann, dass es mir für mein Leben extrem viel gezeigt hat und dass ich sehr viel gelernt hab, eben nicht aufzugeben. Widerstände haben ihren Grund und man kann damit arbeiten. Wenn im Leben kommt: Das kann ich nicht! Dann ist das eine Möglichkeit herauszufinden, was dahinter steckt. Dieses: Ich kann es nicht! wird dann oft zu einem: O, ich kann es sehr gut! Ja, ich glaub, dass eben alles, wie es damals passiert ist, einfach sehr viel dazu beigetragen hat, wie es mir heute geht. Ich kann wirklich sagen, dass ich gelernt hab, keine Angst mehr vor Problemen zu haben und deshalb kann ich damit ganz anders umgehen als früher. Probleme blockieren mich nicht mehr.

10. Liebe Katharina, eine wichtige Frage noch:  Was hast du für ein besonderes Talent oder auch mehrere? Was glaubst du, kannst du besser als andere Menschen, die du kennst?

K I Ich würde jetzt nicht sagen, dass ich unbedingt viele Sachen besser kann als andere Menschen. Aber ich kann schon sagen, dass ich mich gerne und gut auf Neues einlassen kann und recht flexibel bin. Ich kann auch sehr gut und schnell organisieren. Ich bin ein praktisch denkender Mensch, das würde ich auch als Talent sehen. Ich kann auch recht schnell Zusammenhänge erkennen.    

11. Und zum Schluss noch: Kannst du dir vorstellen, dass wir uns in 10 Jahren wieder so zusammensetzen und ich dich erneut befrage?

K I Ja, das kann ich mir sehr gut vorstellen und das würde ich auch begrüßen! Es ist wichtig für Kinder und Eltern, Erfahrungen von anderen Kindern und Eltern kennen zu lernen, gerade in diesem Bereich.

BK I Wenn ich dich jetzt so erlebe, dann freut es mich schon sehr, dich ein Stück weit auf deinem Weg begleitet zu haben. Für die Zukunft wünsche ich dir persönlich und beruflich das Beste. Danke, Katharina!

 

Schlussbemerkung

 

Katharina hat ihr Leben so gut in den Griff bekommen, dass man nur den Hut ziehen kann. Natürlich hatte sie stets die Hilfe und Unterstützung ihrer Eltern, die sie immer bestärkt und an sie geglaubt haben. Sie ermöglichten Katharina Vieles, wofür sie ihnen sehr dankbar ist. Und nicht zu vergessen die Freundin ihres Bruders, die selbst so begeistert von der Mathematik war, und ihre junge, verständnisvolle Mathematiklehrerin und wer weiß, wer noch?

Die großen zeitlichen Abstände zwischen den drei Arbeitsphasen sowie die unterschiedlichen Problemstellungen haben mich als Begleiterin sehr herausgefordert. Dass Katharina aus unserer damaligen Arbeit so viel genommen hat, freut mich besonders.

 

Ein halbes Jahr nach unserem Interview, erfuhr ich von Katharina, sie hätte eine Arbeit gefunden und es ginge ihr persönlich gut. Sie schrieb:

Ich habe einen Job bekommen im SOS Kinderdorf als Jugendbetreuerin und ein Praktikum bei einem Projekt, wo es um jugendliche Flüchtlinge geht - sehr spannend und es macht mir viel Spaß!!

Ich kann mir sehr gut vorstellen, wie Katharina mit den Jugendlichen umgeht. Sie strahlt Kraft und Begeisterungsfähigkeit aus, was auf andere, und ganz bestimmt auf junge Menschen, sehr ansteckend wirkt. Ich glaube, dass Katharina genau da ist, wo sie all ihre Fähigkeiten und Talente voll einsetzen kann.

Mit einem Auszug aus einer E-Mail vom 4. Juli 2012 möchte ich Katharinas Geschichte vorläufig beenden: Ich bin inzwischen Vollzeit angestellt beim SOS-Kinderdorf und betreue sieben weibliche Jugendliche und bald einen männlichen Jugendlichen. Die Arbeit fordert mich jeden Tag aufs Neue heraus und es macht mir sehr viel Spaß. Und das "Nicht aufgeben" ist sehr wichtig in dieser Arbeit. Wenn ich das nicht gelernt hätte, könnte ich diese Arbeit nicht machen!

 

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