Lina, meine erste

Wie alles begann…

Bis zum Sommer 1998 hatte ich sechs Jahre eine Waldorfschulklasse geführt. Dabei waren mir Kinder, die es mit dem Lernen nicht so einfach hatten, besonders ans Herz gewachsen. Immer wieder hatten sie mich vor Rätsel gestellt, die ich versuchte, allein oder mit Hilfe anderer zu lösen, wobei ich einige Erfahrungen sammeln konnte. Eine befreundete Therapeutin riet mir, zukünftig mit solchen Kindern einzeln zu arbeiten. Darin sah sie meine Stärke. Dies hatte sie wahrscheinlich in einem Gespräch mit Linas Mutter erwähnt, die sich um das Fortkommen ihrer Tochter in der Schule Sorgen machte. Nach einem ausführlichen Gespräch mit ihr und einem Abwägen in meinem Innern beschloss ich, die Arbeit mit Lina zu wagen. Gleichzeitig war ich auf der Suche nach einer guten Ausbildung für Legasthenie bzw. Lese-Rechtschreib-Schwäche.

Lina war von vier Kindern die jüngste in der Familie, welche in einem schönen großen Haus mit Garten in gebirgig-ländlicher Umgebung lebte. Der Vater war im Bankwesen vielbeschäftigt und die Mutter kümmerte sich vorwiegend um die Erziehung, die Haushaltsführung und den Garten. Linas Schwestern und der Bruder waren 10 bis 17 Jahre älter als sie, und man kann sich gut vorstellen, dass Klein-Lina von allen so recht geliebt wurde. Ihre Bewegungs- und Sprachentwicklung verlief normal; sie überstand einige Kinderkrankheiten und litt immer wieder an Blasenschwäche. Vom 4. bis zum 6. Lebensjahr besuchte Lina sehr gerne den Waldorfkindergarten und mit 6 ½ Jahren begann sie ihre Schullaufbahn an der Waldorfschule, an die auch zwei ihrer Geschwister gingen. Nun war Lina schon in der 4. Klasse.

Die Mutter sagte, eigentlich sei Lina kein ängstliches Kind, aber im Sozialen schon. Weiter sei sie ein kleiner Morgenmuffel, allgemein nicht sehr ausdauernd und wenig ordentlich; angeblich sei Ordnung für sie nicht so wichtig. Auch würde sie sich sehr leicht ablenken lassen, aber auch gern nach innen wegträumen. Lina spiele sehr schön mit ihrem kleinen Neffen, der mit im Haus wohne, aber auch mit gleichaltrigen Kindern im Dorf; sie beschäftige sich gerne mit Tieren und liebe es, Musik zu hören. Lina sei ein bescheidenes Kind, aber wenn sie unbedingt etwas wolle, könne sie sich auch durchsetzen. In der Schule sei Lesen und Schreiben gleichermaßen schwierig, aber auch mit dem Rechnen hätte es Lina nicht so leicht. Es war vorgesehen, dass sie regelmäßig einmal in der Woche gleich nach der Schule für eine Stunde zu mir kommen sollte.

Hier möchte ich anmerken, dass Linas Mutter, Linas Bruder sowie ein Onkel mütterlicherseits auch mit einer Lese-Rechtschreib-Schwäche zu tun hatten, so dass Linas Schwierigkeiten nicht unbekannt waren.

Als wir uns im November 1998 zur ersten Stunde sahen, war Lina 9 ½ Jahre alt, ca. 1,50 m groß, schlank und wohl proportioniert. Meinen Händedruck erwiderte sie nur zögerlich und sachte. Ihre langen hellblonden Haare trug Lina offen, später manchmal von einem Stirnband gehalten. Das Gesicht zierten viele Sommersprossen, die ihr zusammen mit ihrer kleinen Stupsnase etwas Schelmisches gaben. Die großen blauen Augen konnte ich nur manchmal gut sehen, da Lina den offenen Blickkontakt scheute. Sie machte auf mich einen zarten, schüchternen und unsicheren Eindruck, so, als wolle sie nicht auffallen.

Beim Anfangsgespräch bemerkte ich, wie leise Lina sprach und wie flach sie atmete. Sie erzählte, sie würde sehr gerne draußen spielen; von vier Freunden waren drei Buben. Was sie ganz und gar nicht mochte, war Rumkämpfen und Streiten, und in der Schule gehörte Englisch dazu, weil sie fast nichts verstand. Sie liebte Radfahren und im Winter Rodeln oder Skifahren. Drinnen spielte sie gerne irgendwelche Spiele, malte Bilder und schrieb Geschichten auf; Fernsehen mochte sie weniger.

Die Grundlage für eine gute Zusammenarbeit ist eine gute Beziehung. Deshalb erscheint es mir wichtig, dass Kinder von dem Menschen, dem sie sich anvertrauen sollen, mehr erfahren, als das, was sie sehen oder bereits von ihm wissen, weil sie es oft nur von Dritten gehört haben. So erzählte ich Lina auch etwas von mir, was sie sehr gut aufnahm und uns beide näher brachte.

Anschließend erklärte ich ihr, was wir in den Stunden tun würden und dass sie auch einige Aufgaben für zu Hause mitbekommen würde. Und so begannen wir mit den ersten Übungen, welche mir zeigten, wo Linas Schwächen, aber auch, wo ihre Stärken waren.

Am auffallendsten war die kurze, flache Atmung, die sich auf alles Sprachliche, Bewegungsmäßige und die Körperkoordination auswirkte. Lina kannte noch nicht alle wichtigen Körperteile, z. B. die Hüfte als Körpermitte, und rechts und links konnte sie nicht rasch und sicher zuordnen (Orientierungsschwäche). Dazu kam ihre Schüchternheit, so dass ich fast von einer Angst, sich zu äußern, sprechen möchte.

Bei der Ausführung einer sehr komplexen, seriellen Bewegungsübung offenbarten sich große Unsicherheiten, auch beim Wiederholen der Aufgabenstellung. Im optischen und akustischen Bereich war Lina ungenau, wobei das optische Gedächtnis bei Bildern sehr gut war, denn sie spielte öfter Memory. Es zeigten sich sowohl Schwächen in der Raumlage als auch bei solchen Aufgaben, bei denen verschiedene Wahrnehmungen zu einer komplexen Leistung miteinander verbunden werden müssen. Bekannte, kurze Wörter las Lina gut, aber mehrsilbige und unbekannte Wörter buchstabierte sie, manche Wörter veränderte sie, andere ließ sie weg, die Interpunktion beachtete sie kaum und am Ende war ihr der Sinn des Satzes nicht aufgegangen. Dabei war sie sehr aufgeregt und motorisch unruhig; die Atmung erwähnte ich bereits. Die Abschrift eines Gedichtes, welches wir vorher gelesen und besprochen hatten, zeigte, wie schwer Lina es hatte: vier Zeilen unstetes Schriftbild mit kleiner werdenden, wenig durchformten Buchstaben, mit oben offenen kleine „a“, „ä“, „d“, die „g“s hatten fast keine Unterlängen, ein Nomen war klein geschrieben. Dabei war Lina körperlich unruhig, hatte feuchte Hände und atmete stoßartig aus. Am liebsten hätte ich ihr das Abschreiben erlassen! Im Gegensatz zum bildhaften Gedächtnis war das optische Gedächtnis für Wörter nicht gut ausgebildet, denn Lina schaute sehr oft auf die Vorlage, so dass ich den Eindruck bekam, sie male die Buchstaben einfach wie Formen ab, ohne die Wörter bzw. Sätze als etwas Inhaltliches zu erfassen. Später zeigte sich bei einer kleinen Ansage, dass sie noch so schrieb, wie sie sprach, sich mit  9 ½ Jahren noch in der phonetischen Schreiblernphase befand, z. B. „Schtern“ anstatt Stern, „Schpaß“ anstatt Spaß, „hoite“ anstatt heute usw.

Bei gleichzeitigem Rückwärtslaufen zählte Lina von 50 bis 0 langsam und fehlerhaft; dabei war sie ängstlich und sehr wackelig, hatte also Schwierigkeiten mit dem Gleichgewicht. Das kleine Einmalseins konnte Lina bis etwa zur Sechserreihe, aber nur rhythmisch, d.h. als Reihe vorwärts aufgesagt. Bei der Aufgabe 7 mal 3=? zählte sie an den Fingern hoch: 3, 6, 9, 12, 15, 18, 21! 7 Finger waren oben, also ist 7 mal 3 = 21. Für fünf Additions- und Subtraktionsaufgaben, die sich Lina zunächst zusammenstellen musste, benötigte sie mehr als 15 Minuten. Dabei war sie angespannt, unruhig und fühlte sich sehr unsicher. Beim Zusammentragen der Aufgaben verwechselte Lina mit einer Ausnahme rechts und links, was mich wieder verwunderte, denn die Dominanzüberprüfung hatte gezeigt, dass Lina an Hand, Auge, Ohr und Fuß rechts dominant war. Obwohl sie die Zahlen sehen konnte, verdrehte sie sie häufig, d.h. sie schrieb anstatt des Zehners zuerst den Einer auf. Zwischenergebnisse konnte sich Lina so gut wie nicht merken.

Wo sollte ich mit meiner Arbeit ansetzen, womit beginnen? Das war gar nicht so einfach, denn obwohl es in der Waldorfschule keine Noten und dadurch keinen direkten Leistungsdruck gibt, war Lina in dem Alter, wo ihr durch den Vergleich mit ihren Klassenkameraden immer bewusster wurde, wo und wie viel sie „hinterher“ war. Das ist kein ein sehr angenehmes Gefühl, zumal man als Kind damit überhaupt nichts anfangen kann. Wenn die Lehrerin unter eine misslungene Arbeit wieder etwas „Schlechtes“ geschrieben hatte, reagierte Lina zu Hause mit Tränen und Augenverdrehen, denn sie hatte ja geübt und die Eltern wussten das! Wie sehr Lina unter all dem litt, zeigte sich in ihrer verhaltenen, flachen Atmung und dass sie oft Tränen in den Augen hatte. So beschloss ich, zunächst vorrangig das Problem der Atmung anzugehen. Gleichzeitig wollte ich mit Lina an den seriellen Fähigkeiten, möglichst als Bewegungsübungen mit Zahlen und Buchstaben, und als drittes an der Orientierungsschwäche und der Konzentration arbeiten.

Gerne hüpfte Lina auf dem Trampolin und zählte dazu vorwärts und rückwärts. Oder sie sagte die Dreierreihe auf, wobei sie bei 1 und 2 mit geschlossenen Beinen leicht auf dem Boden hochhüpfte und bei 3 in die Grätsche sprang, dazu die Arme weit nach oben öffnete und die 3 laut betonte, und so weiter bei 6, 9 bis zur 30 und danach das Ganze von 30 bis zur 3 wieder zurück.

Wir standen uns gegenüber und pusteten zugleich einen Wattebausch über einen Tisch, jeder in die Richtung des andern, was Lina immer sehr viel Vergnügen bereitete. Später spielte sie „Luftballett“– ein Wattebausch wird pustend in der Luft gehalten, dass er sich lustig hin- und her bewegt. Wir spielten Streichholzschachtelweitpusten und später blies Lina zu Hause Luftballons auf. Wir sprachen Buchstabenkombinationen und kleine Sprüche, die halfen, die Ausatmung zu vertiefen sowie die Vokale als Reihe A-E-I-O-U, später mit Anlauten, z. B. mit „b“ und „p“, „d“ und „t“, „g“ und „k“, so dass kleine Melodien entstanden und die Sprache konturierter wurde. Manchmal sangen wir auch Lieder, was für die Atmung sehr gut ist, genau wie Lachen. Stehend malte Lina Formen auf großformatiges Papier und sprach dazu 1, 2, 3, wobei sie bei 3 alle Luft, die sie noch in sich hatte, ausatmen sollte. Als serielle Übung erlernte sie das ABC rückwärts zu sprechen, indem sie auf jeden Buchstaben zunächst vorwärts einen Schritt machte und dann ebenso zurück, bis sie nach einiger Zeit die ganze Buchstabenreihe vor und zurück konnte. Darüber freute sich Lina sehr und war auch stolz darauf. Beim Rückwärtslaufen wird auch das Gleichgewicht geschult. Die Malreihen übten wir, indem wir zunächst die Reihen ansahen, welche auf großen runden Pappen bildhaft als geometrische Figuren und Zahlensterne dargestellt waren. So wurden die Gesetzmäßigkeiten der Reihen deutlich sichtbar, wodurch Lina das Erlernen und Vertiefen leichter fiel. Begleitend dazu warfen wir einen kleinen Ball hin und her und sagten die jeweilige Reihe mit der Aufgabenstellung auf, vorwärts und auch zurück. Es ist wichtig, dass die Kinder die ganze Aufgabe lernen und nicht nur die Ergebnisse, denn wenn sie später dividieren sollen z. B. 45: 7 =? und sie wissen nicht, dass die 7 in der 42 sechsmal enthalten ist, versagen sie an der Aufgabe. Anschließend übten wir die Reihen auch durcheinander. Einige Male wiederholte Lina die Übung mit den Zahlenkärtchen, nach und nach verbesserte sie sich und wurde auch schneller. Zahlen verdrehte Lina immer noch, besonders dann, wenn sie müde und unkonzentriert war, z. B. wenn ein besonderes Ereignis bevorstand. Um die Orientierung zu verbessern, machten wir viele Stunden lang Übungen zur „Körpergeografie“. Zur Stärkung der Konzentrationskraft und Verbesserung des genauen Sehens, Abzählens und Ausführens spiegelte Lina kleine Kreuzchen oder auch Linien von links nach rechts, was ihr mit der Zeit immer besser gelang. Sie hatte Freude daran, die Kreuze farbig nachzuzeichnen.

Wenn Kinder mit den Füßen malen und schreiben kann sich die Handschrift verbessern. Für manche von Ihnen klingt das gewiss ungewöhnlich, hat sich aber bei vielen Kindern tatsächlich bewährt. Damit sich Lina dabei auch wohl fühlte, machte sie ab der 5. Stunde, es war kurz vor Weihnachten, gleich zu Beginn warme Fußbäder mit einem wohlriechenden Duft; oft hatte sie auch kalte Füße. Das genoss Lina sehr und erwähnt es auch im Interview, Frage 4. Danach gab es einen Spruch für die Füße. Zum Malen klemmte sich Lina zum Malen mit den Füßen ein kleines Blöckchen aus farbigem Bienenwachs zwischen die Zehen, was spaßig war, weil es oft herausfiel. Von Mal zu Mal gelang ihr das Malen und Zeichnen besser, und ich meine, mit vielen anderen Übungen zusammen hat sich ihre Schrift dann tatsächlich auch verbessert.

Ab und zu las Lina auch etwas und davor malte sie ca. zwei Minuten lang im Stehen einen liegenden Achter auf großformatiges Papier. Sie las mit und ohne Schablone und manchmal auch mit farbigen Folien, die auf dem ganzen Blatt lagen und dabei halfen, den Kontrast zu verbessern und das Sehen zu erleichtern.

Am Ende bekam Lina die Übungen für die nächste Stunde und wir besprachen die mitgebrachten Übungen in dem Sinne: Was ist gut, was ist noch nicht so gut gelungen? Was hilft dir, es besser zu machen? Nie geht es um richtig oder falsch! Das ist ein wichtiger Grundsatz, den ich stets mit allen Kindern beachtet habe und der sich auch in meinem alltäglichen Sprachgebrauch wiederfindet. Trotz vorsichtigen Umgehens kamen Lina bei Misserfolgen sofort die Tränen, weshalb ich sie, so oft ich konnte, lobte und viel mit Humor arbeitete.

Weil Lina gerne und gut malte und zeichnete, bekam sie für zu Hause Mandalas zum Ausmalen. Später entwarf sie eigene Kreisteilungen mit Bleistift. Solche künstlerischen Tätigkeiten helfen, innerlich ruhig und konzentriert an einer Sache zu bleiben. Lina sollte nie länger als 10 bis 15 Minuten auf einmal daran arbeiten, weil das genaue Sehen und saubere Zeichnen anstrengend ist. Auf diese Art und Weise malen die Kinder an einem Mandala oft fünf bis sechsmal, wodurch sie sich mit ihrem Werk emotional tiefer verbinden, als wenn sie es schnell-schnell auf einmal ausmalen. Freude und Stolz über das schön und genau ausgemalte Mandala sind der Lohn, dazu das aufrechte, ehrlich gemeinte Lob derjenigen, die es betrachten. Außerdem bemerkt das Kind, dass es vom Lernbegleiter in seinen Stärken erkannt und ernst genommen wird. Das wirkt sich meist wundersam auf die Beziehung aus, so dass man, falls nötig, auch einmal etwas mehr fordern kann.

Nach den ersten Monaten, Lina war regelmäßig gekommen und hatte gut mitgemacht, wollten die Eltern und ich genauer wissen, welche Fortschritte sie gemacht hatte und wo sie in ihrer Entwicklung stand.

So malte Lina Ende Januar 1999 ein Mensch-Haus-Baum-Bild (MHB-Bild), welches ich mit Hilfe der schon erwähnten Therapeutin auswertete. Es würde zu weit führen, hier zu erklären, was sich im Einzelnen aus Linas Bild aussprach, weshalb es auch nicht in der Anlage enthalten ist. Nur so viel: Die Willenskräfte waren zu schwach ausgebildet, Hände und Füße zu wenig von den Lebenskräften durchseelt; Lina hatte beide nicht gemalt, obwohl der Mensch gerade auf den Baum klettern wollte. Die Atmung war immer noch ein Problem, was sich u.a. auch bei solchen Übungen zeigte, bei denen Lina abwechselnd verschiedene Rhythmen klatschen und hüpfen sollte. Hier kam sie in eine Gleichzeitigkeit und bald ging alles durcheinander. Im Elterngespräch war deutlich geworden, dass sich Lina auf die Extrastunden gut eingestellt hatte und eine positive Entwicklung in Gang gekommen war. Linas Einstellung zum Lesen, Schreiben und Rechnen hatte sich verändert; sie sträubte sich weit weniger, ihre Aufgaben für die Schule zu machen. Wir beschlossen, dass Lina ab März 1999 zweimal in der Woche zu mir kommen sollte.

Zu dieser Zeit begann ich beim Ersten Österreichischen Dachverband Legasthenie mit der Legasthenietrainerausbildung und konnte nun Theorie und Praxis miteinander verbinden, was sehr interessant und spannend war.

Im Großen und Ganzen setzten wir die Übungen wie gehabt fort. Eine rhythmische Bewegungsübung im Liegen, andere Spachübungen, die wieder die Ausatmung betonten, und eine Aquarell-Malübung, ebenfalls für die Atmung, kamen neu dazu. Des Weiteren sollte Lina durch verschiedene Wahrnehmungsübungen aus ihrer häufigen Verträumtheit herausgeholt werden, z. B. Fehler in Suchbildern finden, was sie extrem gerne machte, aber auch „Wie viele Kreise findest du?“ Zur Koordinationsverbesserung zwischen oben und unten machte Lina eine Übung mit dem Seil, die auch für die Atmung gut ist, sowie  eine Übung mit zwei Jonglierbällen, die sie sich abwechselnd unter den Beinen hochwarf und dazu die Dreierreihe, die Viererreihe usw. aufsagte, vor und zurück, natürlich. Linas Muskulatur, besonders die des Bauches, war nur wenig ausgebildet. Außerdem war ihr wegen der schwachen Atmung die Körpermitte so gut wie nicht bewusst. Um diese zu stärken, lernte sie Sit ups zu machen und da ich es gut vormachen konnte, hatte sie einen Anreiz, es ebenfalls so zu können. In den folgenden Stunden übte Lina ehrgeizig, um immer mehr zu schaffen. Sofern die Zeit es zuließ, machten wir am Ende kleine Spiele, bei denen Lina oft gewann.

Nach und nach vertiefte sich die Atmung vom Brustbereich bis in den oberen Bauchraum, aber noch nicht bis ganz nach unten. Lina erschien mir ruhiger, entspannter und kräftiger geworden. Und was wirklich bemerkenswert ist: Lina hatte begonnen, manche Übungen von sich aus zu Hause zu machen, was nichts anderes bedeutete, als dass ihre Willenskräfte gestärkt waren.

Nach 4 Monaten, 18 Stunden, malte Lina das Bild eines Obstbaumes, aus dem sich erneut der Entwicklungsstand offenbarte. Besonders erfreulich war, dass sich an der Atmung viel verbessert hatte. In der nachfolgenden Zeit ging es darum, dass aus den gewonnenen Fähigkeiten Fertigkeiten wurden. Lina kam weiterhin immer noch gerne zweimal in der Woche zu mir und das sehr regelmäßig.

Sowohl in den Stunden als auch zu Hause wurden die Aufgaben schwieriger, was Lina herausforderte. Mandalas malte sie nun mit Wasserfarben aus, schwierige Formen spiegelte sie vorwiegend von oben nach unten, mit den Malreihen waren wir bei der 7er und 8er Reihe angekommen und am 8. April 1999 schaffte Lina erstmals 10 Sit ups, worüber sie sich sehr freute.

Mitte April d. J. führte ihre Klasse ein kleines Theaterspiel auf, in dem Lina in einer Hauptrolle zu sehen war. Lina sprach im Gegensatz zu fast allen anderen Kindern zwar zart, aber gut verständlich und innerlich erfüllt. Sie hatte ihre Rolle mutig gespielt und war zu Recht stolz darauf.

Um diese Zeit führten die Mutter und ich ein Gespräch. Sie meinte, Lina hätte noch bis Februar regelmäßig über Bauchweh geklagt, aber nach den Semesterferien nur noch ab und zu. Sie sei geschickter geworden und würde nun neben Radfahren auch mehr mit Inlinern fahren. Das ist ein deutlicher Hinweis darauf, dass sich Lina besser im Gleichgewicht fühlte. Eine wichtige Hintergrundinformation war, dass Lina in Kürze ein neues Zimmer mit einem anderen Bett bekommen würde. Vorher hatte sie in einem Hochbett geschlafen, so dass sich die Mutter abends nicht zu ihr setzen konnte. Zudem war genau unter ihrem Schlafplatz eine große Wasserader entdeckt worden, wodurch sich erklärte, weshalb Lina öfter schlecht geschlafen hatte. Beim Schreiben am Computer, was Lina manchmal von sich aus probierte, ließ sie Buchstaben aus, ohne es selbst zu bemerken. Insgesamt erlebte die Familie Lina im Aufbruch, innerlich und äußerlich.

Einige Tage später sprach ich auch mit der Klassenlehrerin. Sie sagte, dass Lina weniger „zumachen“ würde, sie sei vom Wesen her offener und präsenter geworden. Mit ihren Klassenkameraden hatte auch Lina die Fahrradprüfung bestanden. Seit einigen Wochen würde sie ganz vorne sitzen, so dass sie von der Lehrerin besser erreicht werden konnte. Bei vielen sprachlichen Übungen würde sich Lina gut beteiligen; sie spräche tiefer, voller und rhythmischer. Leider hätte sie das Klassenspiel innerlich und äußerlich nicht mitverfolgt. Ich erwiderte, dass ich gerade Lina sehr gut in ihrer Rolle erlebt hätte und ihre Aussage nicht nachvollziehen könne. Beim Lesen hätte die Lehrerin keine Veränderungen bemerken können und beim Schreiben hätte sich Lina sogar verschlechtert. Beim Rechnen erlebe sie Lina wacher vom Verstehen her, doch überblicke sie den Zahlenraum bis 1 Million noch nicht ganz. Zumeist würde Lina nicht gut zuhören und vorschnell mit der Arbeit beginnen. Sie wolle so rasch wie möglich damit fertig sein, doch sei Lina mit diesem Verhalten nicht die Einzige in der Klasse. Manchmal würde sie sich gegenüber der Lehrerin im Ton vergreifen und dann nur ungern zurechtweisen lassen. Diese Verhaltensweisen zeigten mir, dass sich Lina in ihrer Entwicklung im Rubikon befand.

Mir gegenüber hat sich Lina in der Einzelsituation immer respektvoll und höflich verhalten. Es war sogar so, dass sie mir beginnend mit Mai viele Stunden lang kleine Blümchen aus dem Park mitbrachte, durch welchen sie von der Schule zu mir kam.

Zur Verbesserung der Schrift legte Lina ein „Schönschreibheft“ an, in welchem sie zu Hause über eine lange Zeit zuerst einmal fortlaufende Formen zeichnete. Da Lina sehr gerne jonglieren lernen wollte, hatte ich ihr in Aussicht gestellt, dass wir damit beginnen würden, sobald sie das kleine Einmalseins beherrschte. Weil sie die Reihen dann auch zu Hause fleißig übte, konnten wir im Mai mit den Tüchern beginnen. Lina erwies sich als geschickt und schon bald konnte sie mit drei Tüchern sehr schön jonglieren. Als sie mit zwei Bällen zu üben begann, warf Lina die Bälle immer wieder gleichzeitig hoch. Mit drei Tüchern hatte sie es gekonnt, aber Bälle fliegen einfach schneller und das Werfen und Fangen ist weit schwieriger. Lina sollte zu Hause weiter üben, aber es wollte nicht recht voran gehen. Da verlor sie die Freude, übte nicht mehr und nach etwa drei bis vier Stunden beendeten wir es. Sie war einfach noch nicht so weit!

Dafür hatte Lina viel Spaß an den neuen Sprachübungen, den Stabreimen, auch als Alliterationen bekannt. Der zu betonende Laut wird kräftig gesprochen und gleichzeitig wird ein dicker Holzstab nach oben geworfen und neu gegriffen. Das kräftigt die Sprache und bringt die Stimme aus dem Kopf in den Brust- bzw. Bauchraum herunter. Fast noch besser gefiel Lina die Übung „Ich packe in meinen Koffer, alles, was aus Papier ist, alles, was glitzert, alles, was kalt ist, alles, was hart ist, alles, was es nicht gibt“ usw. Das regte unser beider Phantasie an, wir mussten oft lachen und trainierten unser akustisches Gedächtnis hervorragend! Manchmal konnte sich Lina mehr merken als ich, was sie besonders freute.

In unserer letzten Stunde vor den großen Ferien machte Lina zuerst die Aufmerksamkeitsübungen. Danach suchten wir gemeinsam die schönsten Wasserfarbenmandalas aus, welche Lina ausschnitt und auf starkes, farbiges Papier aufklebte, um sie danach zu verschenken. Dann fragte ich Lina, was sie jetzt besser könne als im November 1998. Nach einer kleinen Bedenkpause antwortete sie, sie könne besser rechnen und dass das sicherlich mit dem zu tun hätte, was sie bei mir gelernt hat. Sie könne jetzt auf Zehenspitzen stehen und dabei bis 100 zählen, zu Beginn konnte sie gerade bis 5 zählen, und sie könne ganz schnell und ganz oft den „Hampelmann“ machen, ohne sich zu vertun. Sie sei beim Zeichnen von Formen genauer und geduldiger geworden, sie könne sich besser an Sachen erinnern, sie könne kräftiger und deutlicher sprechen und sie hätte gelernt, in den Bauch zu atmen. Wenn das keine „Ausbeute“ war!! Nun fragte ich Lina: Was möchtest du noch verbessern? Ihre Antwort lautete: Ich möchte besser Flöte spielen können und schön und richtig schreiben. Als ich sie ans Lesen erinnerte, meinte sie: Ach ja, das auch. Abschließend malte sie wieder das Bild eines Obstbaumes, der erstmals auf einer Rasenfläche stand und dadurch räumlich wirkte, der erstmals belaubt war, und auch erstmals Äpfel trug im Sinne von „Ernte“. Viel war geschafft, doch dass die Früchte noch nicht fest an den Zweigen hingen und hohl waren, war ein Hinweis darauf, dass noch einiges zu tun war… So verabschiedete ich Lina in die großen Ferien.

Im ersten Jahr unserer Arbeit hatte ich mit Lina vor allem an ihren seriellen Fähigkeiten, der Atmung, der Orientierung, den Willenskräften sowie im optischen und akustischen Wahrnehmungsbereich gearbeitet. Durch die viele Arbeit im seriellen Bereich konnte sich Lina in der Schule besonders im Mathematikunterricht verbessern, was die Lehrerin, Lina selbst und auch die Eltern bemerkt hatten. Im zweiten Jahr ging es darum, die vorhandenen Fähigkeiten weiter zu schulen und darauf aufbauend nun die Lese- und Schreibkompetenz zu verbessern.

Manch einer von Ihnen wird sich fragen, warum ich nicht gleich im ersten Jahr etwas mehr am Schreiben und Lesen gearbeitet habe. Lina war meine erste Schülerin und ich denke, ich habe intuitiv richtig gehandelt. Die Probleme beim Rechnen tun viel mehr weh, denn in der Mathematik gibt es nur verstehen oder nicht verstehen, ein bisschen verstehen gibt es nicht. Es gibt nur richtige oder falsche Ergebnisse, ein Dazwischen gibt es nicht. Wie anders ist es beim Schreiben! Das Kind kann vielleicht nicht richtig, dafür aber originell und fantasievoll schreiben, es kann im Unterricht viele richtige Antworten geben und sich bei Gruppenarbeiten durch Ideen hervortun. Selbst das Lesen kann das Kind einigermaßen in den Griff bekommen, wenn es oft und oft den gleichen Text liest, so dass es ihn fast auswendig kann. Natürlich reicht das nicht, um zu einem guten Leseverständnis zu kommen! Deshalb hatte ich mich entschlossen, zunächst die Atmung und diejenigen Fähigkeiten zu schulen, die sowohl fürs Rechnen als auch fürs Schreiben und Lesen die Grundlagen bilden, wofür sich Bewegungsübungen mit Zahlen und das kleine Einmaleins nahezu anbieten. In meiner weiteren beruflichen Tätigkeit bin ich später immer wieder in dieser Reihenfolge vorgegangen, zuerst Rechen, anschließend Schreiben und Lesen.

Lina hatte sich in den Ferien gut erholt, war kräftig gewachsen und mit 10 ½ Jahren fast so groß wie ich. Sie freute sich auf den Stoff der 5.Klasse, besonders auf die Geschichten der Griechen, und so lag es nahe, dass ich ihr vorschlug, das griechische Alphabet zu erlernen. Begeistert ging sie darauf ein, was sie im Interview, Frage 5, auch erwähnt.

Lina und ein Junge waren damals meine einzigen Schüler und ich wollte unsere Arbeit für den praktischen Teil der Legasthenietrainerausbildung aufbereiten. So überprüfte ich bei beiden zu Beginn die Aufmerksamkeit/Konzentration, die verschiedenen Wahrnehmungsbereiche und im Leistungsbereich Lesen, Schreiben und Rechnen. Ich wertete alles Material aus, erstellte die Diagnosen und schickte sie zum Begutachten an Frau Dr. Kopp-Duller, welche mir zu beiden gratulierte.

Bei Lina hatten sich immer noch deutliche Schwächen in der Körperkoordination gezeigt. Sie konnte verschiedene Vierer-Rhythmen, die zwischen Händeklatschen und Füßestampfen wechseln, nicht fehlerfrei ausführen. Immer wieder kam sie in eine Gleichzeitigkeit und dann ging alles durcheinander. Ebenso auffällig war die intermodale Leistung, so dass Lesen und Schreiben, ganz besonders die Ansage, sehr großen Stress bei Lina verursachte. Im Vergleich zur 4. Klasse hatte sich dort tatsächlich nur wenig verändert.

Als ich Lina fragte, welche Wortarten sie kennen würde, antwortete sie Namenwörter. Lina nickte zwar als ich sagte, es würde noch die Tuwörter, Wiewörter und einige andere Wortarten geben, aber mir wurde klar, dass sie darüber zu wenig wusste. Das richtige Schreiben gründet aber hauptsächlich auf einer verstandenen Grammatik; sehr viel lässt sich davon ableiten. Ich muss wissen, um welche Wortart es sich handelt und wenn sich das Wort im Satz anders zeigt, muss ich es immer noch erkennen können. Ich hoffte, dass Lina im 11. Lebensjahr im Verlauf der 5. Klasse nach und nach für das Regelwissen erwachen würde. So könnten wir das in der Schule Gelernte wiederholen und üben. Regeln, Beispiele und Übungen wollten wir in einem gesonderten Heft, dem Regelheft, festhalten.

Entsprechend den Anforderungen der Legasthenietrainerausbildung bereitete ich die Stunden vor und erstellte Protokolle über deren Verlauf. Gleich zu Beginn lernte Lina verschiedene Aufmerksamkeitsübungen kennen, die sie dann regelmäßig jeweils zum Stundenbeginn ausführte. Neu für zu Hause war ein Trainingsplan, in dem Aufgaben zum täglichen Üben aufgeführt waren. Zu Beginn sollte Lina täglich die Aufmerksamkeitsübungen wie in den Stunden machen.

Vor dem Lesen malte Lina wieder den liegenden Achter. Die kurzen Texte handelten zumeist von der Natur. Waren die Buchstaben und auch die Zeilenabstände des Originals zu klein, kopierte ich den Text größer heraus.

Beim Lesen achte ich sehr darauf, dass an den richtigen Stellen geatmet, deutlich artikuliert und die Wortenden nicht verschluckt werden. Satzpunkte, Kommas u.a. Satzzeichen sind „Atemzeichen“, welche die Sätze untergliedern und deshalb beim Lesen gehört werden müssen. Und damit die Kinder verstehen was sie lesen, müssen „fremde Wörter“ unbedingt erklärt werden.

Wir bestimmten die Wortarten; manchmal schrieb Lina die Nomen mit den Artikeln, ein andermal die Verben oder die Adjektive heraus. Wir suchten weitere Beispiele in der jeweiligen Wortart und leiteten die Schreibweise vom Wortstamm ab. Lina suchte zur Einzahl die Mehrzahl, wir besprachen die vier Fälle der Nomen, konjugierten Verben und steigerten Adjektive. Dabei lernte Lina, die Bezeichnungen wie Hauptwort, Tuwort und Wiewort mit den lateinischen Namen zu verbinden (intermodale Leistung).

Immer wieder suchte ich nach neuen, interessanten Wort-und Buchstabenübungen oder stellte selber welche zusammen: Reimwörter, Blitzwörter, silbenmäßiges Laufen und Sprechen, zwei Nomen zu einem Wort zusammensetzen, Kreuzworträtsel mit kleinen Bildern, von hinten aufgeschriebene Wörter erkennen und richtig aufschreiben, z. B. FPOK, SLAH, ERAAH, NERHO, DNUM, ESAN, viele kleinere Wörter aus einem ableiten, z. B. aus SONNENBLUMENKERNE Sonne, Blume, Kerne, so, um, er, Nonne, Ulme, summen usw., alle Buchstaben sind  hintereinander als Schlange aufgeschrieben, z. B. ALSOWENNIHRMICHFRAGTDANN, aus der die Wörter zu finden sind oder falsche Abstände, z. B. AL  SICHEIN  MALSO RICH TIGMÜ DEWAR… korrigieren und die Buchstaben-Überkreuz-Übung (BÜÜ).

Zu Hause machte Lina täglich die Aufmerksamkeitsübungen und anschließend Übungen für das optische Gedächtnis und die Differenzierung. Zur Verbesserung der Schrift schrieb Lina die kleinen Buchstaben als Druckbuchstaben schön und sauber in ihr „Schönschreibheft“. Im Leistungsbereich visualisierte sie jeweils drei Wörter, die sie dann aufschrieb. Hatte sie ein Wort an drei aufeinander folgenden Tagen richtig geschrieben, schrieb sie es gesondert auf ein kleines Zettelchen, faltete dieses zusammen und steckte es in ein kleines Kästchen. Ein neues Wort kam dazu und wurde wieder visualisiert. Später zog die Mutter oder Lina selbst ab und zu einen Zettel aus dem Kästchen und die Mutter sagte das Wort nochmals an. Hatte Lina es richtig geschrieben, kam der Zettel ins Kästchen zurück. Wenn nicht, musste das Wort erneut visualisiert und wieder dreimal richtig geschrieben werden, bevor es ins „Wort-Kästchen“ zurück durfte. Diese etwas abgewandelte Form der Karteikarten ist für Kinder spielerisch und einfach zu handhaben.

Dann gab es noch das Wörterspiel mit Kärtchen, auf denen Tiere und Gegenstände symbolisch abgebildet sind. Die Kärtchen liegen mit den Bildern nach unten und zwei oder auch mehrere Spieler decken gleichzeitig je eins davon auf. Die Wortsilben des Dargestellten werden geklatscht und mitgezählt. Derjenige, dessen Wort die meisten Silben hat, gewinnt die aufgedeckten Karten; „gleichlange Wörter“ werden aussortiert. Manchmal spielten wir das Wörterspiel auch in unseren Stunden, wobei Lina zum Schluss ihre „gewonnenen Wörter“ aufschrieb.

Mitte Januar 2000 erzählte mir die Mutter, Lina würde sich sowohl in der Schule als auch zu Hause in vielen Bereichen nicht mehr an Grenzen halten, weshalb es besonders in der Schule immer wieder Ärger gäbe. Da es in der Familie vor Lina schon drei andere Kinder in diesem Alter gegeben hatte, konnten die Eltern zu Hause recht gut damit umgehen.

Genau am 8. März, Linas 11. Geburtstag, führten die Mutter und ich ein Gespräch zu ihrer Entwicklung. Aufgrund meiner Wahrnehmungen konnte ich der Mutter von vielen positiven Veränderungen berichten:

  • Lina nimmt sich wichtiger, sie wählt bei vielen Übungen anstatt Gelb häufiger die rote Farbe, sie schreibt und zeichnet Formen mit mehr Kraft (gewachsenes Selbstvertrauen)
  • Offeneres Wesen, weniger müde, spannungsvoller
  • Rhythmische Bewegungsübungen führt sie geschickt und harmonisch aus
  • Mit dem Seil hüpft sie nun leicht und problemlos ohne Atemprobleme
  • Sprunghafte Verbesserungen bei seriellen Übungen
  • Kräftige und geformte Sprache
  • Lina mag ihr Heft mit den Rechtschreibregeln, weil ihr die Regeln helfen, Fehler zu vermeiden oder sie sie bei der Kontrolle selbst finden kann
  • Lina liest Bücher und ist stolz darauf!!!

Die Mutter bestätigte vor allem das gewachsene Selbstvertrauen. Lina war das vorherige Wochenende zum ersten Mal alleine zum Snowboarden gegangen. Und sie war sehr froh darüber, dass Lina endlich begonnen hatte, von sich aus das erste Buch zu lesen. Es war „Harry Potter“!

Manchmal sage ich zu den Kindern, die noch nicht freiwillig lesen: „Wenn du lesen würdest, bräuchten wir uns nicht mit den Regeln abzuquälen. Du siehst die richtig geschriebenen Wörter wieder und immer wieder und irgendwann weißt du dann, wie sie geschrieben werden. Außerdem lernst du, schöne Sätze zu bilden.“ Doch jedes Kind braucht seine Zeit. In Elterngesprächen weise ich immer wieder auf die Bedeutung des Lesens hin und wir suchen gemeinsam nach Themen, welche das Kind vielleicht interessieren könnten. Manchen Kindern fällt das Sehen schwer; ihnen tränen die Augen und sie bekommen Kopfweh. In solchen Fällen sollte ein Optikermeister unbedingt eine gründliche Sehanalyse durchführen. Evtl. liegt eine Winkelfehlsichtigkeit vor.

Wir kamen noch einmal auf das mitunter grenzenlose Verhalten Linas zu sprechen, Sie war in dem Alter, in dem sie sich von den ehemals geliebten Autoritäten, den Eltern, den älteren Geschwistern und den Lehrern, nichts mehr sagen lassen wollte. Weil ein Plan verobjektiviert, Übersicht, Orientierung und Halt bringt, kann er helfen, das Problem zu lösen. Deshalb empfahl ich, für die zu verrichtenden Arbeiten in Haus und Garten einen solchen Plan aufzustellen, wobei alle Familienmitglieder gleichberechtigt daran mitgestalten sollten. Nur so kann sich jeder für das Einhalten des Planes verantwortlich fühlen. Erarbeiten ihn hingegen die Eltern alleine, muss natürlich auch gegen den Plan rebelliert werden! Was davon damals in die Lebenswirklichkeit gekommen ist, erinnere ich nicht mehr. Das eine oder andere wird es schon gewesen sein…

Von Februar bis Anfang Mai 2000 kam Lina nur alle 14 Tage zu mir. Sie war nach 1 ½ Jahren etwas „müde“ von unseren Extrastunden. Doch erwies sich der Abstand als zu groß, so dass sie bald danach wieder wöchentlich kam. Zu dieser Zeit begann Lina die Rechtschreibregeln mit der „Kontrollhilfe“ zu üben und weil sie recht gerne damit arbeitete, kam sie gut voran. Ebenfalls für die Rechtschreibung schrieb Lina weitere Regeln und Beispiele dazu in ihr „Regelheft“; am Ende waren es neun Regeln. Übungen für die Atemregulierung machte Lina fortlaufend, ebenso Sprachübungen und Übungen zu den großen Malreihen, bei denen wir bis zur 16er Reihe kamen. 

In den letzten Wochen malte Lina zu Hause wiederum Mandalas aus, unter dem Aspekt, die vorgegebenen Grenzen zu respektieren, d.h. die Linien nicht zu überzeichnen. Sie schrieb weiter deutsche Druckbuchstaben und griechische Buchstaben in ihr Heft und übte mit der Kontrollhilfe die Rechtschreibung. Zu Beginn machte sie die Aufmerksamkeitsübungen. So ging das Schuljahr seinem Ende entgegen.

Mitte Mai 2000 hatten die Mutter und ich ein abschließendes Gespräch. Schön sei, dass Lina weiterhin lesen würde; den 3. Teil von Harry Potter hätte sie ganz alleine gelesen. Durch das verbesserte Regelwissen würde Lina weit weniger Fehler machen, jedoch würde sie bei sozialen Problemen und Zeitdruck zusehends schlechter scheiben. In der Schule hätte Lina vermehrt Probleme mit Regeln, eher in Mathematik, weniger in Deutsch. 

Ich empfahl der Mutter, bei Lina nicht zu streng zu sein, andererseits aber sehr darauf zu achten, dass sie vorgegebene Grenzen und Regeln einhält. Diskussionen sollte sie weitgehend vermeiden, was gewiss eine Gratwanderung darstellte. Über die großen Ferien sollte sich Lina tatsächlich erholen; lesen wäre schön und Gartenarbeit würde ihr gut tun. Ein Fortsetzen der Extrastunden mit Beginn der 6. Klasse schlossen wir zu diesem Zeitpunkt aus, da sich Lina aus unserer Sicht sehr gut entwickelt hatte und nach zwei intensiven Jahren wirklich eine Pause notwendig war.

Fast 11 Jahre später trafen wir uns Anfang März 2011 in Linas Studentenzimmer. Wegen einer Zugverspätung war ich nicht zur verabredeten Zeit gekommen, so dass sie auf mich warten musste. Lina, die etwa 1,80 Meter groß ist, begrüßte mich sehr freundlich. Sie strahlte etwas Sonnig-Heiteres und Ruhiges aus, was sich durchaus mit Neugier mischte. Und so begannen wir bald mit unserem Gespräch.

 

Interview mit Lina am 04.03.2011

 

Bärbel Kahn I Hallo, Lina, groß bist du geworden! In wenigen Tagen wirst du 22 Jahre alt. Zu Beginn will ich dir etwas erzählen:

Deine Mutter, mit der ich damals in der Schule gemeinsam an verschiedenen Projekten arbeitete, hatte mir von dir und deinen Schwierigkeiten in der Schule erzählt. Seit September 1998 war ich nicht mehr als Lehrerin tätig und gerade dabei, mich neu zu orientieren. Die „besonderen Kinder“, die, die es beim Lernen schwerer als andere hatten, waren mit während meiner Lehrtätigkeit irgendwie ans Herz gewachsen, eben, weil sie sich so anstrengten, es aber doch nicht so recht voran gehen wollte. Immer wieder hatte ich mit einigen von ihnen extra gearbeitet, wobei mich eine Therapeutin, die in größeren Abständen an die Schule kam, unterstützte. Außerdem war sie Ansprechpartnerin für Eltern und Oberstufenschüler. Sie empfahl deiner Mutter, sich an mich zu wenden, um mit dir zu arbeiten. Und so „sprang ich mit dir ins kalte Wasser“, denn ich hatte ja noch keine spezielle Ausbildung dafür. Von November 1998 bis Juli 1999 bist du dann recht gerne einmal, später sogar zweimal in der Woche, für eine Stunde zu mir gekommen. Während dieser Zeit hatte ich die Ausbildung zur Legasthenietrainerin begonnen. Durch die Arbeit mit dir konnte ich das Gelernte gleich praktisch erproben, wobei ich immer wieder Hilfe und Unterstützung von der befreundeten Therapeutin erhielt. Am 18. November 1998 warst du das erste Mal bei mir. Du gingst in die 4. Klasse der Waldorfschule Innsbruck.

1.       Wie alt warst du und an was kannst du dich noch erinnern?

Lina I Als das angefangen hat, war ich 9 ½ Jahre und woran ich mich erinnern kann ist, dass die Mama gesagt hat, dass ich da jetzt einmal in der Woche hingehen kann. Die Mitschüler haben eigentlich nie so wirklich verstanden, was ich da genau mache. Sie fanden es eher komisch und eigenartig. Ich hab‘ dann immer gesagt, ich gehe zur Nachhilfe, weil es einfach verständlicher ist. Mit den Lehrern weiß ich nicht mehr so genau. Ich hatte meine Klassenlehrerin und glaub‘, dass es schon ein Problem war, weil ich sicher ein ruhigeres Kind war und nicht so viel Aufmerksamkeit bekommen hab‘, eben weil ich nicht das lauteste Kind in der Klasse war.

BK I Bei unserem ersten Gespräch hast du erzählt, dass du gerne Bilder malst und Geschichten schreibst. Jedoch konntest du nur wenig schreiben und es strengte dich sehr an.

2.       Weißt du noch wie es dir damit ging?

L I Also ich glaub, ich habe schon gemerkt, dass ich nicht gut schreiben kann. Es fällt einfach schnell auf, wenn ein Mitschüler nicht gut laut lesen und schreiben kann. Also Geschichten schreiben? Eigentlich komisch, dass ich das gesagt hab. Ich kann mich nicht daran erinnern, das jemals gemacht zu haben. Bilder malen sicherlich, das hab ich schon immer gern gemacht, aquarellieren und so, aber ich kann mich nicht erinnern, je eine Geschichte geschrieben zu haben. Bemerkung: Ja, komisch, aber du hast es damals gesagt. Ich habs hier aufgeschrieben (ich zeige es ihr).

BK I Beim Benennen und Schreiben von Zahlen hast du öfter den Zehner mit dem Einer vertauscht. Es ist ja im Deutschen auch sehr schwer, weil es dreizehn, fünfundzwanzig, einundsechzig usw. heißt; wir sprechen den Einer vor dem Zehner. Durch diese „Zahlendreher“ warst du auch beim Rechnen ziemlich unsicher. Ich hatte bemerkt, dass du das Gleichgewicht nicht gut halten konntest. Ebenso konntest du rechts und links nicht gut unterscheiden. Ich versuchte, mich in dich hineinzuversetzen und mir wurde deutlich, dass es zwischen den Zahlendrehern und dieser körperlichen Instabilität ein Zusammenhang geben musste. Außerdem hattest du Angst, Dinge nicht richtig zu tun, und weil sich Angst auch immer auf die Atmung auswirkt, war sie bei dir ganz flach und leicht. Richtig tief in den Bauch hineinatmen konntest du gar nicht. Ich glaube, dass du dich insgesamt sehr unsicher gefühlt hast. Du hast auch ganz leise gesprochen.

3.  Weißt du noch, welche Spiele und Übungen du für die Atmung gemacht hast?

L I Mir ist zur Atmung eingefallen, dass ich am Boden gelegen bin, ein Ball auf meinem Bauch lag und ich musste versuchen, dass er herunterfällt. Ich weiß nicht, ob dieses Spiel mit der Schneeballschlacht auch dazu gehört? Nein? Sonst ist mir eigentlich dazu nichts weiter eingefallen, nur das. Bemerkung: Lina hat zuerst eine Aquarellübung für die Atmung gemacht und sich anschließend mit dem Ball auf dem Bauch hingelegt. An den ersten Teil konnte sie sich nicht mehr erinnern, genauso wenig wie an das Wattebauschpusten, das Hüpfen auf dem Trampolin und einige Sprachübungen sowie rhythmische Klatsch- und Hüpfübungen. Es ist nur das in ihrer Erinnerung geblieben, was sie sehr beeindruckt hat.

4.     Kannst du dich an die Fußbäder mit der anschließenden Massage und  der nachfolgenden Übung erinnern? Wonach hat es geschnuppert?

L I Es hat immer nach Lavendel gerochen. Zuerst war es nur einfach so eine Wanne und irgendwann später hast du ein Bad gekauft, das hat immer so geblubbert. Danach hab ich mit meinen Füßen die liegende Acht gemalt mit Wachskreiden. Die hab ich immer quer zwischen die Zehen klemmen müssen, weil sie so weit auseinander stehen (Lina lacht).

BK I Wie hast du das Fußbad erlebt? Angenehm oder eher seltsam?

L I Das Fußbad habe ich immer sehr angenehm erlebt.

5.       Gibt es irgendetwas, was dir besonders Spaß gemacht hat oder war             alles nur anstrengend?

L I Viel Spaß hat mir immer gemacht das Schneeballspiel und eigentlich auch, dass ich das griechische Alphabet gelernt habe, und das vorwärts und rückwärts, weil es ein Erfolgserlebnis war. O.k., passt, ich kann mir Sachen gut merken und ich kann auch was! Und gern habe ich auch immer gemacht, was ich heut noch ganz viel tue, die Bilder vergleichen und die Fehler herausfinden. Das hab ich immer wahnsinnig gern gemacht! Und die Fußbäder waren sehr fein. Manchmal war es schon anstrengend, weil ich natürlich auch gefordert worden bin, und das ist dann scheinbar immer anstrengend (wir lachen beide!). Vor allem in dem Alter!

BK I Ich habe hier eine Probe, wie du damals vor gut 12 Jahren geschrieben hast. Schreib doch mal etwas und lass uns nur die Schrift sehen und vergleichen.

6.       Na, was sagst du?

L I Ja, irgendwie ist es Wahnsinn, was sich da getan hat, von dem. Vor allem, dass ich jetzt eine eigene Handschrift entwickeln hab können und nicht mehr so diese Schulschrift hab, dieses Volksschul-Ding, wie man es halt lernt, sondern einfach meine eigene Handschrift hab (Lina freut sich sehr).

BK I Bist du zufrieden mit deiner Handschrift?

L I Ja, manchmal schon, manchmal…. Das ist verschieden. Wenn ich jetzt schreib und ich weiß, das ist nur für mich, dann schaut sie ganz anders aus. Also, dann les es einfach nur ich, dann achte ich auch nicht auf Groß- und Kleinschreibung oder so, weil es mir einfach egal ist. Wenn ich aber weiß, es liest noch jemand anderer, dann schreib ich anders.

BK I Nach den großen Ferien kamst du im September 1999 wieder zu mir. Du gingst nun in die 5. Klasse. Bis zum Schuljahresende haben wir 27 Stunden lang miteinander viele verschiedene Dinge gearbeitet. In der Zeit zwischen den Stunden solltest du einige Übungen auch zu Hause ausführen; dafür hattest du einen Plan. Ich glaube, dass du damit manchmal recht schnell fertig warst ….

7.        Stimmt das?

L I Das hat es schon gegeben, dass die Mama gesagt hat: So, und jetzt machen wir das! Für mich war das immer so: Alle anderen sind einfach nur daheim und ich muss jetzt wieder diese Übungen machen! Da gab es dieses Heft für grammatische Regeln. Da hab ich was nachschreiben oder auf Blättern mit Zeilen verschiedene Formen zeichnen müssen. Und da hat es so eine Box gegeben (Lina meint das EASY-Trainingsset des Ersten Österreichischen Dachverbandes für Legasthenie), die gibt es immer noch. In der waren ein Memory-Spiel drin und andere Dinge. Dann gab es so Texte zum Schreiben und solche Sachen…. Mit leiser Stimme Und ja, ich war sicher oft schnell fertig! Bemerkung: Dann stimmt es also. (Wir lachen beide).

BK I Damit du dir die Rechtschreibregeln besser merken konntest, haben wir ein „Regelheft“ angelegt.

8.            Hat dir dieses Heft vielleicht mal geholfen und gibt es das noch?

L I Ich glaub das gibt es noch. Es ist sicher bei meinen alten Schulsachen dabei, habs lange nicht mehr gesehen. Ich kann mich schon erinnern, dass es mir weiter geholfen hat und vor allem, weil ich dann in der Schule teilweise Erfolgserlebnisse gehabt hab.

Heute lern ich so, dass ich mir alles herausschreib und farbig anstreich. Nur so von power-point-Folien oder aus Büchern lernen, des geht gar nicht. Ich muss alles herausschreiben, alles „verschriftlichen“. Dann streiche ich Wichtiges farbig an und muss es immer wieder und immer wieder durchgehen und nochmals farbig machen. Das ist ganz schön aufwändig. Anders geht es nicht.

BK I Wann hast du gemerkt, dass du so besser lernen kannst? War das schon während der Schulzeit oder erst später?

L I Erst jetzt, noch nicht während der Schulzeit. Pause. Lina überlegt: Eigentlich erst seitdem ich die Ausbildung mach.

BK I Du bist also von selber darauf gekommen?

L I Ja.

9.        Wie geht es dir, wenn du auch heute noch nicht fehlerfrei schreiben

            kannst? Welche Strategien hast du entwickelt?

L I Für mich ist es eigentlich schon sehr schwierig, dass ich nicht gut schreiben kann, weil eben jeder Mensch in unserer Gesellschaft gut lesen und schreiben und gut rechnen können muss. Es ist auch schwierig den Leuten zu erklären, warum das so ist. Ich seh die Fehler ja selber gar nicht. Teilweise schreib ich die Sachen am Computer, obwohl das Rechtschreibprogramm ja auch nicht alle Fehler sieht. Meistens habe ich die Strategie entwickelt, auf Google zu schauen oder von der Mama oder sonst irgendjemand Korrektur lesen zu lassen, weil es für mich eben wahnsinnig peinlich wär, wenn hier in der Ausbildung in Projektarbeiten Fehler drin sind.

BK I In deiner Familie bist du die Jüngste von vier Kindern. Du hast zwei Schwestern und einen Bruder.

10.          Hatten sie in der Schule ähnliche Schwierigkeiten wie du?

L I Meine zwei Schwestern können alle beide sehr gut schreiben und sie lesen wahnsinnig viel, was ich ja lang nicht gemacht habe. Damit hab ich erst jetzt angefangen. Wer halt das gleiche Problem hat in unserer Familie wie ich, ist mein Bruder. Und sonst in der Familie weiß ich nicht, wer noch Legastheniker ist.

BK I Unsere Arbeit endete nach fast zwei Jahren und insgesamt 68 Stunden am 28. Juni 2000. Du hattest dich sehr gut entwickelt, warst insgesamt in einer recht stabilen Verfassung. Du hast mir zum Abschluss ein Bild gemalt und geschenkt. Ich habe es dabei.

11.          Willst du es mal sehen?

L I Ja, dieses Abschiedsbild stellt dar: Fische und Meer und Pflanzen und so und eigentlich hab ich so etwas immer sehr gern gemalt. Vor allem Fische und Wasser hab ich immer sehr interessant gefunden. Und eigentlich schwimme ich auch sehr gern, also lustig! Und ich kann mich noch sehr gut an das Bild erinnern, aber ich weiß nicht, wo ich es gemalt hab.

BK I Ich habe noch andere Arbeiten von dir…. Wir schauen sie an und sprechen darüber. Lina erinnert sich an Vieles; sie lacht öfter.

Lass uns nun darüber reden, wie es mit dir weiterging. Du hast die Waldorfschule nach 12 Jahren beendet. Das war im Sommer 2007.

12.         Was hast du danach gemacht?

L I In der Waldorfschule hab ich für den Abschluss der 12. Klasse das Thema gewählt: Menschen mit Behinderung in unserer Gesellschaft mit der Frage: Gibt es Integration? Das ist mir heut immer noch wahnsinnig wichtig. Durch diese Arbeit bin ich darauf gekommen, dass ich einen sozialen Beruf erlernen wollt. Davor hab ich nie gewusst, was ich später machen wollt. Nach der Waldorfschule hab ich begonnen, die Matura in der Abendschule zu machen, hab dann aber abgebrochen, weil ich gemerkt hab, dass das nicht das Richtige ist für mich und ich eigentlich keine Matura für eine Ausbildung im sozialen Bereich brauch. Danach hab ich 1 ½ Jahre lang in der Lebenshilfe gearbeitet und mich für eine Ausbildung zur psychiatrischen Krankenschwester beworben. Weil ich den theoretischen Test nicht bestanden hatte, bin ich beim ersten Versuch durchgefallen. Dann hab ich mich noch einmal angemeldet und dann hats geklappt. Jetzt ist das erste Jahr vorbei und es gefällt mir noch sehr gut; es war also genau das Richtige für mich. Es hat halt so seine Zeit gebraucht, ehe ich das gefunden hab, was ich machen wollt und was mich auch zufrieden stellt.

Mit der Familie ist es so wie immer. Mit den Freunden hat sich einiges verändert – einige hab ich nicht mehr, andere sind dazu gekommen; gehalten haben sich die meisten Freunde von der Waldorfschule.

13.        Weißt du schon, wie es nach Abschluss deiner Ausbildung für dich weitergehen könnte? Möchtest du in Tirol bleiben oder mal raus aus dem Ländle?

L I Ich hab mir überlegt, dass ich nach meiner Ausbildung weiter weg gehen möcht. Wenn ich schon so einen helfenden Beruf erlern und weil wir alle ja quasi eh schon im „Goldenen Käfig“ leben, würd ich gerne als Krankenschwester oder Entwicklungshelferin arbeiten. Das wär wahnsinnig interessant! Bevor ich mich wirklich festige und da bleiben will in Tirol, will ich zuerst weit weg kommen und etwas für die Gemeinschaft leisten.

14.       Lina, was glaubst du, kannst du besser als andere Menschen, die du kennst? Was hast du für ein besonderes Talent oder auch mehrere?

L I Besondere Talente? Ist gar nicht so einfach, was Gutes von sich zu sagen. Kommt mir ein bisschen wie Beweihräucherung vor… Ich glaub schon, dass ich ein offener Mensch bin. Ich versuch andere Menschen nicht zu bewerten oder zu verurteilen für irgendwas. Ich versuch auch Menschen in etwas, was um mich ist, einzubinden; dazu sagt man wohl Gemeinschaftssinn. Manchmal wollen die aber nicht, was ich schad find, weil ich zurückstecken muss. Das ist schon ziemlich hart für mich, muss ich aber üben! Ich glaub, ich kann auch ganz gut zuhören und mich in andere Menschen einfühlen, deshalb auch meine Berufswahl. Ich kann auch ganz gut mit ihnen umgehen, sie ansprechen, dass sie etwas tun sollen und so. Ich kann aber auch ganz gut nur beobachten, was los ist, muss nicht immer was machen. Andere sagen von mir, ich bin geduldig und verlässlich. Reicht das? Ach so, ich befasse mich sehr gerne mit handwerklichen Sachen, am liebsten häkle ich Kappen!

15.         Noch eine letzte Frage: Könntest du dir vorstellen, dass ich dich invielleicht 10 Jahren noch einmal befrage? Du bist dann 32 Jahre alt.

L I Na ja, schaun wir mal…

BK I Liebe Lina, ich habe mich sehr gefreut, dass du dir die Zeit genommen hast, auf meine Fragen zu antworten. Ich danke dir und wünsche dir für die Zukunft alles Gute.

 

Bemerkungen der Mutter

 

Als jüngstes Kind der Familie verbrachte Lina eine harmonische Kindheit. Sie war ruhig, ausgeglichen und fröhlich und entwickelte sich normal. Als Nesthäkchen erhielt sie viel Zuwendung und Aufmerksamkeit, wenngleich das Familienleben von den drei älteren Geschwistern sehr geprägt war.

Gerne ging Lina in den Waldorfkindergarten. Dominante und lautstarke Kinder mied sie eher und Streitigkeiten ging sie meist aus dem Weg. Beim Nachhause fahren erzählte sie von den Geschichten und vor allem von anderen Kindern. Nachmittags spielte Lina gerne mit den Kindern aus der Nachbarschaft. 

Im ersten Jahr der Waldorfschule fiel Lina das zeitige Aufstehen schwer und in der Schule war sie um 8.00 Uhr selten richtig wach. In der Klasse verhielt sie sich zurückhaltend und schüchtern. Ihre Klassenlehrerin erlebte Lina im Unterricht als verträumt und im Umgang  mit wacheren Kindern manchmal überfordert. Aber alles Bewegungmäßige mochte Lina sehr. Sie malte schöne, kraftvolle Bilder und lernte altersgemäß schreiben, lesen und rechnen.

In den nächsten zwei Schuljahren war Lina in die Klassengemeinschaft nicht besonders gut integriert. Die Freundschaften zu anderen Kindern wechselten, aber sie hatte keine richtige Freundin. Darunter litt sie, ebenso, dass sie manchmal von den Mädchen ausgegrenzt wurde. Im Unterricht zog sie sich sehr in sich zurück. Sie hatte Angst, etwas nicht zu verstehen oder falsch zu machen. Wenn sie in der Klasse etwas vortragen musste, kam es vor, dass sie ausgelacht und gehänselt wurde. Ihre Konzentrationsfähigkeit war nicht besonders gut. Ihre Aufmerksamkeit richtete sich eher auf das, was sie nicht konnte und auf das interaktive Geschehen innerhalb der Klassengemeinschaft.

In dieser Zeit begannen sich mein Mann und ich zunehmend Sorgen zu machen, da Lina die Schule nicht mehr gerne besuchte. In den Fächern Englisch, Italienisch, Rechnen und bei der Rechtschreibung hatte sie deutliche Rückstände. Ihr Selbstwertgefühl war wenig ausgeprägt und in der schulfreien Zeit konnten wir sie kaum für etwas motivieren. Innerhalb der Familie erlebten wir Lina aber auch mutig und couragiert, wenn sie etwas Wichtiges für sich erreichen wollte. Im Umgang mit ihrem kleinen Neffen verhielt sie sich liebevoll und umsichtig.

Eine Therapeutin, die öfter die Schule besuchte, um Eltern, Schüler und Lehrer der Oberstufe zu unterstützen riet uns, Lina ein außerschulisches Angebot mit körperlich aufbauenden und seelisch stärkenden Übungen zu ermöglichen. Zusätzlich könnte sie ihre schulischen Defizite aufarbeiten, um wieder mehr Selbstsicherheit zu gewinnen. Sie empfahl mir Frau Kahn, die ihr aus verschiedenen Unterrichtssituationen bekannt war und von der sie glaubte, dass sie mit Lina entsprechend arbeiten würde. Frau Kahn übernahm die Aufgabe gerne und unsere Tochter konnte sofort mit einem Lern- und Trainingsprogramm beginnen. Nach den Stunden erzählte Lina vergnügt von ungewöhnlichen Übungen mit Zahlen und Buchstaben, von Spielen wie „Luftballett“, vom Malen mit den Füßen und vom Jonglieren und zeigte mir voller Stolz schön ausgemalte Mandalas. Durch Schönschreibübungen verbesserte sich die Schrift und ein Deutsch-Regelheft half Lina bei der Rechtschreibung. Zuhause mussten weitere Übungen gemacht werden, zunächst mit meiner Unterstützung. Zunehmend selbständiger und freudiger gestaltete Lina ihre Aufgaben. Während dieser Zeit erlernte sie auch das Snowboarden, was ihr sehr viel Freude bereitete.

Mit wachsenden schulischen Fortschritten und persönlichen Erfolgserlebnissen verbesserte sich ihre soziale Situation in der Klassengemeinschaft zusehends. Lina bekam sehr viel Zutrauen in die eigenen Fähigkeiten und erkannte ihre Stärken, baute sie aus und setzte sie entsprechend ein.

Rückblickend waren meines Erachtens folgende Aspekte für das Gelingen dieser Art der Einzelförderung, wie sie Lina durch Frau Kahn erfahren durfte, wichtig:

  • Das Erlebnis, die Erfahrung: Ich, Lina, bin gemeint, ich bin den Erwachsenen wichtig.
  • Eine hohe Wahrnehmungsfähigkeit für das Besondere eines Kindes und die Kenntnis über altersgemäße Entwicklungsschritte.
  • Ein umfassender Blick auf den ganzen Menschen und damit verbunden eine Förderung der körperlichen und funktionalen Fähigkeiten, der seelischen Kräfte und die Stärkung des Ich-Bewusstseins.

Lina absolvierte erfolgreich die zwölf Klassen der Waldorfschule. Nach ersten beruflichen Erfahrungen in einer Einrichtung für Menschen mit Behinderung macht sie nun ihre Wunschberufsausbildung. Sie hat sich individuelle Strategien des Lernen und der Wissensaneignung erarbeitet und ist sowohl in den theoretischen Ausbildungsblöcken als auch in den einschlägigen Praktika sehr anerkannt. Durch ihre umgängliche und humorvolle Art ist sie bei Kollegen und Patienten sehr beliebt. Die Familie ist ihr sehr wichtig. Sie pflegt aktiv die Beziehung zu ihren Geschwistern und deren Familien und zu ihren Großeltern und erfreut uns Eltern häufig mit ihrer ganzen Aufmerksamkeit.

 

Schlussbemerkung

 

Lina ist im Sternzeichen der Fische geboren. Als Lehrerin und Lernbegleiterin sind mir viele Fische-Geborene begegnet. Die allermeisten sind von ihrem Wesen her sensibel bis weinerlich, mitfühlend, manchmal bis zur Selbstaufgabe, oft künstlerisch oder auch handwerklich begabt, ideell und spirituell und ein wenig lebensunsicher. Als Kinder sind sie oft so verträumt, dass sie Wirklichkeit und Traum kaum auseinanderhalten können. Sie erzählen Erlebtes, weil sich Manches aber nur in ihnen abgespielt hat, können sie sogar der Lüge bezichtigt werden. Anstrengungen, Schwierigkeiten und Konflikten gehen Fische-Geborene, wenn möglich, gerne aus dem Weg; sie „umschwimmen“ sie sozusagen. Kinder können aber oft nicht ausweichen; sie fühlen sich hilflos und dann weinen sie.

Vieles von dieser Beschreibung trifft ganz gut auf Lina zu (siehe auch Linas Antwort zur Frage 14). Sie hat sich mit diesen „mitgegebenen“ Wesens- Eigenschaften auseinandergesetzt und eine berufliche Richtung eingeschlagen, bei der ihr viele davon sehr hilfreich sind. Mehrere Jahre war sie in einer sozialen Einrichtung tätig, weil sie sich zu schwachen und hilfsbedürftigen Menschen hingezogen fühlt. Ohne Verständnis, Geduld und Einfühlungsvermögen hätte Lina das nicht geschafft. Mit diesen Erfahrungen hat sie nach zwei Anläufen 2010 ihre jetzige Ausbildung zur psychiatrischen Krankenschwester begonnen und sagt im Interview, dass das genau das Richtige für sie ist. Für hilfsbedürftige Menschen da zu sein und sich mit ihnen über kleine Fortschritte zu freuen, ist eine schwere, aber wunderschöne Aufgabe.

Am 16.11.2011 schickte ich Lina ihre Geschichte zum Begutachten, worauf sie am gleichen Tage antwortete:

Liebe Bärbel, zuerst möchte ich dir mal sagen, dass du mich mit dem ersten Teil wirklich berührt hast, weil ich viele Dinge von damals vergessen oder verdrängt hatte. Ich habe schon immer gewusst, dass ich ein eher stilles Kind war, aber dass ich so eingeschüchtert und ängstlich war, habe ich nicht mehr gewusst. Da hast du sicherlich viel dazu beigetragen, dass es jetzt nicht mehr so ist und ich weiß, dass ich auch etwas kann. Danke dir. ….. Liebe Grüße aus dem immer kälter werdenden Tirol, Lina

 

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