Lisa
Am 25. September 2000 kam Lisa zur Überprüfung einer Lese-Rechtschreib-Schwäche zu mir. Von ihrer Mutter hatte ich schon einiges über ihr bisheriges Leben erfahren. Lisa war 15 Jahre und 8 Monate alt und etwa 1,55 Meter groß; ihre Gestalt machte einen plastischen Eindruck. Sie hatte ein rundliches Gesicht, hellbraunes glattes Haar und sah mich freudig-erwartungsvoll aus großen hellen Augen an. Ihre Nase schaute irgendwie neugierig und recht groß in die Welt; dazu passte der fransige Pony. Wenn ich mich recht erinnere, trug sie Jeans und ein orangefarbenes Sweatshirt, vielleicht auch in späteren Stunden. Ich erinnere mich an das Orange, weil es mir gut zu ihrem sonnigen Wesen zu passen schien.
Ihre Eltern hatten sich getrennt und Lisa lebte bei ihrem Vater, dessen zweiter Frau und ihrem Stiefbruder in einem abseits gelegenen, kleinen Tal. Der Vater war als Kraftfahrer oft unterwegs und mit ihrer Stiefmutter vertrug sich Lisa nicht so gut. Der Vater las kaum und hatte die Lese- und Schreibprobleme seiner Tochter lange Zeit unterschätzt. Von Lisas Mutter hatte er keine gute Meinung, wodurch Lisas Verhältnis zu ihrer Mutter etwas getrübt war. Ich selbst habe ihn nie kennen gelernt.
Die Mutter aber hatte sich immer Sorgen gemacht und Lisa, so weit wie möglich, zum Lesen angehalten. Sie ist Holländerin und lebte mit ihrem Partner weiter entfernt. An zwei Wochenenden im Monat durfte Lisa sie und ihren Lebensgefährten, der aus erster Ehe drei Kinder hat, besuchen. Beide denken und handeln unkonventionell, so dass der Gegensatz zur Enge des Familienlebens beim Vater sehr groß war. Wenn Lisa zu ihm und der Familie zurück musste, gab es fast immer viele Tränen.
Lisa wurde mitten im Winter geboren. Sie kam zwei Wochen zu früh auf die Welt. Schon mit neun Monaten begann sie nach einer kurzen Krabbelphase zu laufen, um das dritte Lebensjahr herum, etwas verzögert, verständlich zu sprechen. Etwas später wurden bei ihr Heuschnupfen und eine Allergie gegen Hunde- und Katzenhaare festgestellt. Die allergischen Reaktionen traten auch noch auf, als wir uns kennen lernten.
Bevor Lisa mit 6 Jahren und 7 Monaten eingeschult wurde, war sie ein Jahr in den Kindergarten gegangen. Nach vier Jahren Volksschule besuchte sie vier Jahre die Hauptschule und ein Jahr eine Polytechnische Schule. Während dieser Zeit konnte sie oft nur schwer einschlafen und redete häufig im Schlaf. Lisa hatte Angst davor, andere Menschen zu verletzen oder für sich selbst sorgen zu müssen, was eigentlich keine „Kinder-Ängste“ sind. Für das Erledigen der täglichen Hausübungen benötigte Lisa zwei bis drei Stunden. Ansonsten sei Lisa ein ziemlich normales Kind gewesen, vielleicht etwas unordentlich mit den Spielsachen in ihrem Zimmer. Die Mutter hatte mir von ihrem Vater, Lisas Opa, erzählt, dass er Linkshänder gewesen sei. Sie vermutete bei ihm eine Lese-Rechtschreib-Schwäche, was aber früher nicht erkannt und so bezeichnet worden war.
Natürlich hatte Lisa gemerkt, dass sie es mit dem Lesen und Schreiben schwerer hatte als andere Kinder (siehe dazu Interview, Frage 6). Doch durch das Verhalten des Vaters wurde ihr bis zum Ende ihrer Schulzeit nie so richtig bewusst, dass man daran etwas ändern kann. Nun befand sie sich seit Juli 2000 in der Berufsausbildung in Innsbruck und die Mutter meinte, die Situation sei günstig und Lisa alt genug, um die Sache selbst in die Hand nehmen zu können. Sie hatte im Internet recherchiert und ihrer Tochter empfohlen, sich an mich zu wenden. Wie Lisa zunächst darauf reagierte, können Sie im Interview, Frage 1, nachlesen.
Um ihre Schwäche anerkennen und offenbaren zu können und zu hoffen, dass ihr vielleicht doch geholfen werden kann, benötigte Lisa einige Zeit, wohl wissend, dass es ihrem Vater nicht Recht war. Sicherlich hat es zu Hause einige Gespräche gegeben, denn sie wollte nichts gegen seinen Willen unternehmen. Obwohl er es nicht gut hieß, willigte er letztendlich doch ein. Danach rief mich Lisa an und wir machten einen Termin für die Überprüfung aus.
Während unseres Gesprächs fiel mir Lisas klare, aber etwas brüchige Stimme auf. Offen und freundlich antwortete sie auf meine Fragen. Lisa verfügte über einen reichen Wortschatz und war sehr redegewandt. Als sie davon sprach, dass sie so selten bei ihrer Mutter sein konnte, wurde sie traurig.
In der Schule würde Lisa sehr gerne frei formulieren und schreiben, aber richtig (orthografisch richtig) zu schreiben, fiele ihr schwer und laut lesen sei sehr anstrengend. Würde sie leise, nur für sich lesen, könne sie sich alles rasch und gut merken, allerdings bekäme sie Kopfweh dabei. Im letzten Schuljahr konnte sie mathematische Aufgabenstellungen nicht gut verstehen; das Rechnen selber hatte ihr aber immer viel Spaß gemacht (siehe Tonis Geschichte). Am liebsten würde sie Dinge tun, zum Beispiel malen und zeichnen und sehr gerne auch alle möglichen Sportarten betreiben. Ab und zu fühle sie sich allgemein unwohl, weshalb wisse sie nicht.
Lisa überraschte mich mit der Aussage, sie würde abends ihren Tag rückblickend betrachten. So etwas hatte ich von einem 15 jährigen Mädchen nicht erwartet. Zum Abschluss des Gespräches meinte sie, dass sie sehr gerne immer weiter lernen und am liebsten die ganze Welt bereisen würde. Sie wollte sehen, wie die Menschen dort leben. Dabei strahlten ihre Augen freudig und optimistisch.
Die Ergebnisse der Überprüfung zeigten, dass die Körperdominanz bei Hand, Auge, Ohr und Fuß rechts stabil war. In den Wahrnehmungsbereichen war aufgefallen, dass Lisa Gereimtes von Ungereimtem wenig unterscheiden konnte (akustische Differenzierung) und dass es ihr schwer fiel, Wortketten zu bilden (akustische Serialität). Beim Lesen und Schreiben fielen ihre intermodalen Leistungen auf (verschiedene Wahrnehmungsbereiche müssen zu einer komplexen Leistung verbunden werden). Außerdem war beim Lesen der Stresslevel sehr hoch – innerlich und äußerlich angespannt, verhaltene, flache Atmung, zittrige und feuchte Hände, sehr leise Stimme, ständiges Schlucken. Längere Wörter konnte Lisa nur langsam zusammenschleifen, wodurch ein Lesefluss kaum zu Stande kam und sie den Inhalt am Ende auch nicht ganz verstanden hatte. Zum Schreiben lehnte sie den Füllfederhalter ab; sie wollte nur einen Bleistift benutzen.
Mit Bleistift Geschriebenes ist unauffällig und hat etwas Flüchtiges. Es kann verwischen und schnell wieder ausgelöscht werden, wohingegen mit Tinte Geschriebenes viel besser und länger lesbar und bleibender ist.
Lisa schrieb den zuvor gelesenen Text ruhig und in einem guten Tempo fehlerlos ab. Die Ansage dagegen strengte sie sehr an; sie stöhnte dabei und als sie fertig war, seufzte sie erleichtert auf. Bei vier Wörtern hatte sie vier Buchstaben dazu gefügt, was mir vorkam, als würde es zu ihrem Wesen passen.
Die Mutter hatte mir erzählt, Lisa würde versuchen, es allen recht zu machen, auch wenn es manchmal zu viel des Guten sei. Auf sich selber schaue sie kaum oder gar nicht; sie nahm sich zu wenig wichtig. Deshalb möchte ich hier von Lisas persönlicher Fehlertypologie sprechen:
Um sicher zu gehen, lieber etwas mehr, als zu wenig machen (mehr Buchstaben als nötig), sich selbst zurücknehmen (Bleistift).
Das Wesen eines Menschen drückt sich in seiner Schrift und auch in der Orthografie aus. Das erkannte ich damals bei Lisa sehr deutlich und fand es im Laufe meiner Tätigkeit bei älteren Jugendlichen und Erwachsenen sehr oft bestätigt, bei Kindern jedoch noch nicht.
Lisas Schriftbild war gut leserlich; die Zeilen verliefen auf unliniertem Papier gerade und die Zeilen- und Wortabstände passten zu den kleinen, kugeligen und schön geformten Buchstaben, wobei sich große und kleine manchmal nicht gut unterschieden. Doch wirkte das Bleistift-Geschriebene nicht so recht „greifbar“ (mir fällt kein besserer Ausdruck dafür ein).
- Wie wollte ich mit Lisa arbeiten, womit beginnen?
Einerseits sollte Lisa lernen, mit ihrer Schwäche umzugehen und andererseits, ihre Stärken als Talente und Begabungen kennen und schätzen lernen. Ebenso wichtig war, dass sie lernte mit dem familiären Spannungsfeld umzugehen und sich selber wichtiger zu nehmen, mehr aus dem Hintergrund nach vorne zu treten. Und sie sollte freier lesen und besser und schreiben können, auch das Zittern ihrer Hände sollte „verschwinden“.
Im Detail schlug ich Atem-und Entspannungsübungen vor, dazu rhythmische, stressreduzierende Übungen, die Astronautenübung (ASTRO-Übung) als Konzentration stärkende Übung, Übungen für den akustischen Wahrnehmungsbereich, Formen zeichnen, künstlerisches Zeichnen, Aquarellieren und Jonglieren, Strümpfe stricken und dokumentieren, verschiedene Lese- und Schreibübungen sowie Arbeit an der Rechtschreibung und der Grammatik. Da Lisa den Tagesrückblick bereits kannte, sollte sie auch auf die jeweilige Stunde zurückblicken. Außerdem wollte ich sie mit einem Lerntagebuch (LTB) bekannt machen. Weil ihre Leistungen im Bereich der akustischen Differenzierung sehr schwach waren, empfahl ich, bei Lisa eine Höranalyse durchführen zu lassen.
Der Mutter gefielen die klaren Aussagen und die möglichen Hilfestellungen für ihre Tochter. So kam Lisa, die Vertrauen zu mir gefasst hatte, beginnend vom 9. Oktober 2000 bis zum 24. April 2001 sieben Monate zu mir (24 Stunden).
Gleich in unserer ersten Stunde lernte Lisa neben den verschiedenen Aufmerksamkeitsübungen auch die „Denkmütze“ kennen. Sie ist die Dreierreihe vorwärts und rückwärts gelaufen, hat den Liegenden Achter als Aquarell gemalt, mit Tüchern jongliert und mit einigen Wörtern die Methode des Visualisierens von Wörtern ausprobiert. Am Ende der Stunde hat sie sogar noch das Lerntagebuch kennen gelernt. Das alles war sehr viel auf einmal, doch war Lisa so begeistert dabei, dass es fast von alleine ging! Lesen Sie dazu bitte im Interview, Frage 7.
Für zu Hause standen in ihrem ersten Trainingsplan folgende Aufgaben: Entspannungsübungen, Jonglieren, Formen zeichnen, Schwarz-Weiß-Zeichnungen mit einem Kohlestift (siehe Allgemeine Anlage/Zeichenübungen und Annas Arbeiten), Wörter visualisieren und Lerntagebuch führen.
Der Grund für das Lerntagebuch war Lisa sogleich einsichtig – es würde ihr helfen, Veränderungen rasch zu bemerken. Das bedeutete aber, dass sie sich selbst beobachten musste! Nach dem Training sollte sie täglich folgende fünf Fragen beantworten:
- Wie fühle ich mich vor und nach dem Training? (mit Hilfe der Einstellskala)
- Wann und wie lange habe ich trainiert?
- Was hat mir am meisten Freude bereitet?
- Wobei musste ich mich am meisten anstrengen?
- Wo erlebe ich welche Fortschritte bzw. Veränderungen?
Lisa verabschiedete sich erfüllt und irgendwie glücklich und machte sich auf den Heimweg, der fast eine Stunde dauerte. Sie kaufte Karteikarten für die zu visualisierenden Wörter, ein Heft für das LTB und machte mit dem HNO-Arzt einen Termin aus.
Zur zweiten Stunde kam Lisa direkt vom Arzt, dessen Befund später auswies, dass bei der zentralen Hörverarbeitung und auch sonst nichts Auffälliges vorlag. Also konnten wir gezielt an der Verbesserung der akustischen Differenzierung arbeiten. Mit den Übungen der ersten Stunde und zwei neuen Bewegungsübungen verging die Zeit wieder sehr rasch. Als Lisa die ASTRO-Übung erlernte, sagte sie, sie würde die Bewegungen als sehr schön erleben, sich innerlich wohl fühlen und um sich herum Farben wahrnehmen. Da ihr die Übung sehr gut tat und sie sie schon nach kurzer Zeit sehr gut und selbstständig ausführen konnte, empfahl ihr, sie so oft wie möglich zu machen; lesen Sie dazu im Interview, Frage 8.
Am Ende der Stunde betrachteten wir ihre Zeichnungen, besprachen die anderen Ergebnisse und wie es ihr mit den Fragen im LTB ergangen war. Lisa hatte sie täglich beantwortet und auch schon kleine Fortschritte, besonders beim Jonglieren, bemerken können. Ich stellte ihr mein Forschungstagebuch (FTB) vor, in dem ich begonnen hatte, die Arbeit mit Lisa und ihrem LTB parallel zu dokumentieren. Die Arbeit mit jungen Erwachsenen, die den Veränderungsprozess auf sich gestellt durchführen müssen, war für mich bis auf die Erfahrung mit Katharina neu. Deshalb wollte ich so viel wie möglich mit Lisa lernen. Die drei Forschungsfragen, die ich mir gestellt hatte, lauten:
- Wie nützlich ist ein Lerntagebuch während eines Legasthenietrainings?
- Kann Lisa, ein 15/16jähriges Mädchen, über einen längeren Zeitraum selbstständig und regelmäßig trainieren?
- Wie viel Zeit braucht es, bis Lisa ganz alleine für sich selbst an ihrer Schwäche arbeiten kann?
In der dritten Stunde versuchten wir uns dem Problem zu nähern, weshalb Lisa beim Lesen schwindlig wurde, sie Kopfweh bekam und ihr manchmal die Augen tränten. Ronald Davis, ein Amerikaner, der bis zu seinem 13. Lebensjahr nicht lesen und schreiben konnte, später als Ingenieur bei der NASA beschäftigt war und sich bildhauerisch betätigte, hat in seinem Buch „Legasthenie als Talentsignal“ die Legasthenie erstmals von dem Stigma befreit, sie sei eine Krankheit, mit der man irgendwie leben müsse und woran sich nichts ändern ließe. Im Buch hat er seine eigene Geschichte aufgearbeitet und eine Methode dargestellt, wie sich Legastheniker in eine solche Verfassung bringen können, dass sie eben doch Lesen und Schreiben erlernen und ausüben können. Als Kind konnte er die Buchstaben auf dem Papier nicht „festhalten“. Sie tauschten ihren Platz, kamen ihm entgegen und tanzten herum. Als ich Lisa davon erzählte, begann ihr Gesicht zu leuchten. Ja, sagte sie, das kenne ich gut. Bald danach kaufte sie sich das Buch und fand später noch weitere Übereinstimmungen. Das war für Lisa eine sehr wichtige Erkenntnis sich zu sagen: Ich bin eine Legasthenikerin! Ich habe Probleme beim Schreiben und Lesen, aber viele andere Dinge kann ich sehr gut und sogar besser als andere! Lisa sagte, sie würde sich sehr über ihre Fortschritte freuen und immer besser fühlen, so, als würde sie innerlich weiter und größer werden.
Eine Antistress-Übung, von 1 bis 10 zählen und dabei bestimmte Stellen am Körper berühren, machte uns gegenüberstehend viel Spaß. Lisa wurde von Mal zu Mal sicherer und mutiger. Bereits in der
vierten Stunde probierte Lisa die neu gekauften drei Jonglierbälle mit gutem Anfangserfolg aus. Sie staunte, dass sie es schon konnte! Zu Hause übte sie so oft wie möglich und wurde dadurch rasch immer besser. Mit dem Strümpfe stricken begannen wir ebenfalls in der vierten Stunde, wobei Lisa anfangs etwas fest strickte, aber bald lockerer wurde. Strümpfe stellen eine Herausforderung dar, denn sie sind räumliche Gebilde. Man muss sich gut merken, wie die einzelnen Strumpfteile, die meisten mit fünf Nadeln, gestrickt werden und schauen, dass der zweite Strumpf in etwa so gelingt, wie der erste. Und am Ende sollte eine Dokumentation dazu erstellt werden! Lisa sagte, sie würde sich durch die regelmäßigen, sich wiederholenden Bewegungen und die Wärme der Wolle beim Stricken gut entspannen können.
Beim Aquarellieren des Liegenden Achters beobachtete ich vor allen Dingen, ob das Zittern ihrer Hände irgendwann nachlassen würde, doch sollte das noch einige Zeit dauern. Zu tief saß Lisas Unsicherheit und zu gering war ihr Selbstwertgefühl.
In den ersten sechs Stunden bis zum 13. November 2000 kam Lisa regelmäßig und sehr gerne. Sie verbesserte sich überall von Stunde zu Stunde. Interessanterweise hatten wir bei der Arbeit mit Wortketten festgestellt, dass sie bei der Überprüfung die Aufgabenstellung nicht richtig verstanden hatte. Sie konnte sich zehn aneinander gereihte Wörter sehr wohl merken! Somit „verschwand“ ein Problem, worüber wir sehr froh waren. Das Schrägstrichzeichnen fiel Lisa am schwersten; es wollte ihr kaum gelingen, die Striche gleich lang und in eine Richtung zu zeichnen sowie Tiefe in das Bild zu bekommen. Dagegen bereitete ihr das Zeichnen von Formen viel Freude; am besten gelangen ihr die schwungvollen, runden Formen, die geraden und die sich kreuzenden weniger. Das LTB hatte Lisa geholfen zu erkennen, dass ihr das Visualisieren von Wörtern leichter fiel, es schneller als am Anfang ging und sie sich die Wortbilder leichter merken konnte.
Im ersten Entwicklungsgespräch konnte die Mutter von den Wochenenden und Telefonaten mit Lisa berichten und ich auf meine Beobachtungen, die Gespräche mit Lisa, die Aufzeichnungen im FTB und die Stundenprotokolle zurückgreifen, woraus sich ein sehr positives Bild ergab:
Lisa würde alle Aufgaben sehr ernst nehmen und gerne machen. Sie hatte dem Vater erzählt, wie gut ihr alles tun würde, doch leider konnte er sich nicht in Lisas Freude einfühlen. Dafür freute sich die Mutter umso mehr! Sie hatte wahrgenommen, dass Lisa an den Wochenenden beim Verabschieden weniger weinen würde und ihr insgesamt lebensfroher vorkam. Ich drückte meine Freude darüber aus, dass Lisa die täglichen Übungen so gut machen würde und sie überall schnell vorangekommen war. Wir vereinbarten weitere sechs Stunden, in denen die Arbeit aufbauend fortgesetzt werden sollte.
Der zweite Trainingsabschnitt dauerte bis Anfang Januar 2001. Lisa machte weiterhin die Anfangsübungen; sie erlernte eine meditative Entspannungsübung und neu war auch das Aquarell „Blauer Himmel und gelbe Sonne“, welches dazu beitragen sollte, dass sie leichter und flüssiger lesen konnte. Dieses therapeutische Bild, welches Audrey ΜcAllen * in ihrem Buch „Die Extrastunde“ beschrieben hat, haben viele Kinder bei mir gemalt und im Kontext mit anderen Übungen stellte sich fast immer eine Verbesserung des Lesens ein.
In der achten Stunde war Lisa aufgeregt und traurig. Sie erzählte, dass ihr Vater die ganze Woche mit dem Truck unterwegs sei und die Stiefmutter sie ständig mit irgendwelchen Dingen bedrängen würde. Abends könne sie nicht gut einschlafen und nachts würde sie häufig wach liegen. Lisa litt sehr unter den Bedingungen zu Hause und sehnte sich nach Ruhe und Verständnis. Die meisten Übungen gelangen ihr nicht so gut wie sonst. Sie strickte, ohne es zu bemerken, eine ganze Nadel anstatt rechter linke Maschen. Ich gab Lisa eine ganze Reihe von Wärme-Empfehlungen: sich körperlich bewegen, so viel wie möglich in der Sonne aufhalten, heißen Kräutertee mit Honig trinken, Kerzenschein, dabei stricken, leise Musik hören, Honigbonbons lutschen, warm baden oder warmes Fußbad – zum Einschlafen immer warme Füße haben. Lisa beherzigte die meisten und konnte schon in der folgenden Woche berichten, dass es ihr etwas besser ging. Allerdings machte sie sich Sorgen, weil ihre Mutter und ihr Partner für drei Wochen verreist waren und sie noch nichts von ihnen gehört hatte. Zum Glück war noch vor deren Abreise geklärt worden, dass Lisa den 25. und 26. Dezember bei ihrer Mutter verbringen durfte, worüber sie sehr froh war.
Die neunte Stunde war gleich mehrfach eine besondere. Lisa hatte mir ein Blatt mit einigen Ansagen mitgebracht, die sie auf eigenen Wunsch bei ihrer Mutter geschrieben hatte. Unsicherheiten zeigten sich bei „e“ oder „ä“, „z“ oder „tz“, „b“ oder „p“ und „Dehnungs-h’s“ sowie bei unbekannten und längeren Wörtern; die Groß- und Kleinschreibung war kaum noch ein Problem. Später bemerkte ich, dass Lisas Hände beim Aquarellieren nicht mehr zitterten; es tauchte später nur noch einmal auf. Wir besprachen drei Wortgruppen mit o.g. Schwerpunkten und erstmalig bat ich Lisa, mit dem Füller zu schreiben, worauf sie sich tatsächlich einließ. Als ich mit der Ansage beginnen wollte, geriet sie sofort unter Stress – die Hände wurden feucht, die Atmung flacher und schneller. Eine Atemübung half ihr, sich zu beruhigen. Wir besprachen noch einmal die 22 Wörter und am Ende hatte sie alles richtig geschrieben, worauf sie sehr stolz war. Lisa nahm das Blatt zum Vorzeigen mit nach Hause, denn ihr Vater sollte ihre Fortschritte anschauen können.
Für die zehnte Stunde hatte ich von einer längeren Ansage eine Wortfehleranalyse angefertigt. Als Lisa sah, dass sie von 183 Wörtern 166 richtig geschrieben hatte (90,7 Prozent), war sie hocherfreut. Im Gegenzug zeigte sie mir stolz ihr erstes Paar Socken und das zweite, welches sie auch schon angefangen hatte. Im letzten Teil der Stunde begannen wir gemeinsam aufzuschreiben, in welcher Reihenfolge und wie sie die Strümpfe gestrickt hatte. Das Formulieren war eine schwierige Angelegenheit! Zuvor führte Lisa viele Übungen ohne Anleitung sehr gut alleine durch. Ich freute mich darüber, bedeutete es doch einen weiteren Schritt in Richtung selbstständiges Arbeiten.
In der letzten Stunde des alten Jahres arbeitete Lisa wiederum weitestgehend selbstständig. Ich konnte ihr anmerken, wie gut es ihr ging. Sie freute sich auf die freien Tage und wollte viel draußen unternehmen und Sport treiben. Beim Beantworten der fünf Fragen im LTB war ihr aufgefallen, dass sie zur letzten Frage oft nicht wusste, was sie aufschreiben sollte. Sie schlug deshalb vor, nur einmal wöchentlich darauf zu antworten, weil sie glaubte, die Veränderungen deutlicher bemerken zu können. So machte es Lisa dann auch. Beim Verabschieden schenkte sie mir einen Blumentopf und suchte sich von meinen Keramiksachen eine kleine Schale aus. Froh gestimmt ging Lisa in die Ferien und auch ich war zufrieden, denn sie war durch ihr eigenes Bemühen sehr rasch vorwärts gekommen.
Am 8. Januar 2001 sahen wir uns wieder. Gut erholt erzählte Lisa begeistert von Weihnachten und wie lustig sie mit ihrer Mutter Silvester in einem Hotel verbracht hatte. Den aktuellen Teil der Strumpf-Dokumentation hatte sie am PC geschrieben und über das Rechtschreibprogramm korrigiert, was sie mir freudig vorzeigte. Und das zweite Paar Strümpfe war auch schon fast fertig! Alle Übungen gelangen Lisa sehr gut und am Ende formulierten wir wieder gemeinsam die Fortsetzung der Dokumentation. Abschließend fiel ihr beim Stundenrückblick noch ein, dass sie zu Hause mit 3 Bällen 20mal jongliert hatte (20 Umläufe). Ohne das LTB hätte sie nicht bemerkt, dass es so oft war.
Die folgende Stunde begann mit einem kleinen Ausflug in die „Welt der Bälle“. Lisa hatte am Wochenende bei einem Ball in der Garderobe ausgeholfen. Sie zog sich gerne schön an und hatte auch zweimal getanzt! Obwohl sie immer noch aufgeregt und müde war, gelang ihr die ASTRO-Übung mit dem versetzten Beginn der Arme und Beine schon nach dem zweiten Versuch. Mit den Schreibarbeiten am PC war sie dieses Mal durch einen falschen Modus nicht viel weiter gekommen, doch hatte sie die Strümpfe bis auf die zwei Fußspitzen fertig gestrickt. Wir formulierten den Rest der Dokumentation und danach diktierte ich ihr einige ihrer Problemwörter. Ich freute mich sehr, dass Lisa wieder zum Füller griff, ohne dass ich etwas sagte. Zwei Fehler bei 15 Wörtern war ein gutes Ergebnis, doch gefiel uns beiden ihre kleine Schrift nicht; die Buchstaben waren flüchtig und undeutlich geformt, manche Wörter unzusammenhängend geschrieben. Sogleich beschlossen wir, dass Lisa zu Hause anstatt der Formen mit dem „Schönschreiben“ von Buchstaben beginnen würde – sie wollte es selbst! Sie probierte eine breite Feder aus und kam sehr gut damit zurecht. Wiederum beim Stundenrückblick sagte Lisa, sie hätte sich überlegt die fünfte Veränderungsfrage erst dann zu beantworten, wenn sie eine Veränderung wirklich deutlich bemerken würde. Dafür wolle sie andere Dinge, die ihr wichtig erschienen, sofort aufschreiben.
Am 15.01.2001 konnte ich nach 12 Stunden Lisas Mutter und ihren Lebensgefährten zum zweiten Entwicklungsgespräch begrüßen. Das schönste, was ich zu hören bekam war, dass Lisa an den Wochenenden beim Verabschieden nicht mehr weinen würde! Sie lache mehr und hatte begonnen Lebenspläne zu machen. Beide erlebten Lisa im Aufbruch; manchmal widersprach sie, was früher nie vorgekommen war. Ich ergänzte, dass Lisa bei mir viele Übungen selbstständig und sehr gut ausführen würde. Sie sei wach, interessiert und sehr lernfreudig, zuverlässig, ausdauernd (LTB führen) und hatte „Biss“, was ich an einem Beispiel ausführte. Lisa hatte Gefallen am Schreiben mit dem Füller gefunden, sie schrieb „leichter“ und machte weniger, jedoch „hartnäckige“ Fehler. Das laute Lesen war immer noch mit Stress verbunden, hatte sich aber auch schon deutlich verbessert. Doch war das Zittern ihrer Hände, soweit ich es wahrnehmen konnte, verschwunden! Lisa verfügt über viel Herzenswärme. Sie könne sich über ihre Erfolge sowohl bei den Übungen als auch beim Schreiben und Lesen sehr freuen, und, was mich sehr berührte, sie konnte sich ebenso sehr über die Freude anderer freuen! Die Mutter und ihr Lebensgefährte waren vor allem mit Lisas persönlicher Entwicklung sehr zufrieden. Da ich erst im Sommer nach Deutschland zurückkehren würde, hätten wir noch einige Monate Zeit, um das Erreichte weiter ausbauen und festigen zu können. Um auch beim Lesen und Schreiben selbstständiger zu werden und sich dort zu verbessern, sollte Lisa weiterhin zu mir kommen. Die Arbeit mit dem LTB und dem FTB fanden beide sehr interessant.
Der dritte Trainingsabschnitt dauerte bis Mitte März 2001. Lisa kam wie immer am Vormittag vor der Arbeit im Frisörsalon. Aufgekratzt erzählte sie, sie hätte ihr Zimmer umgeräumt mit der Begründung: Es ist dran gewesen, weil ich mich ja auch verändert habe! Zur Harmonisierung der Atmung hatte ich aus meinem Fundus von Sprachübungen einige Hexameter für Lisa herausgesucht, die sie sprach und dazu lief. Später warfen wir uns gegenüberstehend einen kupfernen Stab auf die betonten Silben zu. Die Anfangsübungen, die ASTRO-Übung sowie das Jonglieren blieben erhalten. Für die Arbeit im Schreib-Lese-Bereich hatte ich ab jetzt mehr Zeit eingeplant. Lisa bearbeitete ihre typischen Fehler, wie z. B. „ä“ oder „e“, mit Hilfe vorgegebener Blätter, was sie zu Hause fortsetzte. Erfreulich war, dass sie die Strumpf-Dokumentation alleine und in guter Qualität fertig gestellt hatte.
Damit Lisa hören konnte wie sie las, nahmen wir es mit einem Diktiergerät auf. Sie sprach deutlich und betonte gut, aber lange, zusammengesetzte Wörter verursachten Stress. Sie lautierte sie langsam durch, manchmal wiederholend und die Interpunktion beachtete sie wenig. So hatten wir unsere Lese-Schwerpunkte zum Üben gefunden. Diese Methode habe ich später bei jungen Menschen immer wieder erfolgreich angewendet. Es ist gut, wenn sie sich selbst lesen hören!
Neben den Aufmerksamkeitsübungen strichelte Lisa zu Hause weiter mit dem Kohlestift Schwarz-Weiß-Zeichnungen, die ihr inzwischen etwas besser gelangen, und schrieb Buchstaben in ihr „Schönschreibheft“.
Einmal konnte Lisa wegen Krankheit nicht kommen. Danach sah sie ganz verändert aus. Blass und mit schmalem Gesicht blickte sie mich kraftlos an. Sie hatte in zwei Wochen 6 Kilogramm abgenommen, war 16 Jahre alt geworden und frisch verliebt! Viel erzählt hat sie nicht, aber sie strahlte. Ein wenig traurig war sie auch, weil sie ihren Beutel mit der Zeichnung und dem zweiten Paar Socken im Bus vergessen hatte. Die ASTRO-Übung verhalf Lisa zu innerer Harmonie, so dass sie die Übungen und Aufgaben recht gut ausführen konnte. Am Ende erzählte sie, sie würde die „z“ oder „tz“ – Regel sehr konsequent anwenden und insgesamt weniger Fehler machen. Beim Beantworten der Fragen im LTB hätte sie festgestellt, dass sich ihre Schrift verändert hatte – sie sei größer geworden, die Buchstaben besser geformt und Druck- und Schreibschrift weniger vermischt. Durch das gegliederte Lesen langer Wörter in unseren Stunden würden ihr ständig lange Wörter auffallen und sie könne sie nun, ohne in Stress zu geraten, gut lesen.
Ab Ende Februar 2001 konnte Lisa immer erst abends ca. 17:45 Uhr kommen, da sie nun Schule hatte. Sie sagte, es würde ihr „schmecken“; am liebsten lerne sie abends im Bett. Obwohl es so spät war, gelangen Lisa alle Übungen mit Ausnahme des Jonglierens gut. Ihr sei aufgefallen, dass es damit irgendwie nicht weiterging, sich manchmal sogar verschlechterte. Wir beschlossen, es für drei Wochen ruhen zu lassen, wenn sie jedoch Lust darauf hätte, solle sie es ruhig machen. Bei einer kleinen Ansage waren von 26 Wörtern 24 richtig.
Die abschließenden Stundenrückblicke waren wie eine „Ernte“ des Geleisteten. Lisas Merkfähigkeit hatte sich deutlich verbessert, sie konnte sich vielfältiger und differenzierter ausdrücken und einzelne Fragen gezielt und genau beantworten.
Zu Hause hatte das freie Gestalten eigener Mandalas das Schwarz-Weiß-Zeichnen abgelöst; lesen Sie dazu im Interview, Frage 10. Anstatt einzelner Buchstaben schrieb Lisa nun sinnige Sprüche in ihr „Schönschreibheft“, die sie selbst aussuchte und mir gerne vorzeigte. Problemwörter visualisierte sie, wenn sie sie als solche erkannte.
Ergänzend zur Orthografie begannen wir ab der 18. Stunde mit der Grammatik, zunächst mit den drei Grundwortarten und ihren Veränderungen: Substantive bzw. Nomen – Deklination, Verben – Konjugation, Adjektive – Komparation. In der Satzlehre werden sie aber anders benannt: Aus dem Substantiv bzw. Nomen werden Subjekt und Objekt, aus dem Verb wird Prädikat und aus den Adjektiven werden adverbiale Bestimmungen. Diese lateinischen Begriffe sind Vokabeln, die man lernen kann/sollte und von denen man wissen muss, was sie beinhalten.
Mir sind kaum Kinder begegnet, die sich bei den Grundwortarten wirklich auskannten. Viele wussten etwas von den Nomen und den Verben, manche auch von den Adjektiven. Die Beugung (Wortveränderung) und was diese verursacht, war ihnen wenig bis gar nicht bekannt, meist ging es durcheinander. So ein Halbwissen verursacht dann in der Schule oft ein sehr unangenehmes Gefühl: Ich kann es, aber nicht so ganz richtig… Lisa zeigte sich an den grammatischen Inhalten sehr interessiert. Im Rückblick auf diese Stunde antwortete sie auf die Frage: Was ragte heute für dich besonders heraus? Das Lesen und die drei Wortarten.
Nach der 19. Stunde, die in etwa so verlief wie die vorige, trafen sich die Mutter und ich zum dritten Entwicklungsgespräch. Ihr war aufgefallen, dass sich Lisas Selbstbewusstsein weiter gesteigert und Tiefe bekommen hatte. Sie hatte gelernt, sich wichtig zu nehmen und mit sich selber so respektvoll umzugehen, wie mit anderen Menschen. Lisas Wortschatz kam ihr reicher und anspruchsvoller vor. Auch aus der Schule kamen positive Rückmeldungen und das Zeugnis würde wohl sehr gut ausfallen. Familiär hatte sich ebenfalls etwas zum Positiven verändert: Lisas Stiefmutter war plötzlich Lisas beste Freundin geworden, wodurch weiß ich nicht mehr, und sie fühlte sich nun in dem kleinen Wohnort sehr wohl.
Ich erzählte, dass Lisa ihre Übungen weiterhin sehr konsequent und ausdauernd machen würde. In den letzten Wochen hätte sie ein großes Interesse an der Grammatik entwickelt und sei beim Lesen und Schreiben sehr gut vorangekommen. Ich verwies auf das „Schönschreibheft“, in das sie eifrig und schön sinnige Sprüche schrieb. Lisa würde sehr selbstständig, überlegend und reflektierend handeln, was für ihr Alter sehr weit war. Der um einige Jahre ältere Freund würde ihr gut tun, so schien mir. Die Mutter stimmte mir in vielen Dingen zu, bemerkte aber, dass ihr die Fortschritte beim Schreiben noch zu gering seien. Sie wünschte eine Fortsetzung der Arbeit um nochmals sechs Wochen und hoffte, dass sich Lisa darin weiter verbessern würde.
In der darauf folgenden Stunde berichtete mir Lisa wieder von etwas Besonderem. Sie hatte das Wochenende bei ihrer Mutter verbracht und deren Tagebuch lesen dürfen, infolge dessen es zwischen beiden ein gutes, klärendes Gespräch gegeben hatte. Von da ab hatte Lisa ein ganz inniges Verhältnis zu ihrer Mutter, weil sie nun viele Dinge besser verstehen konnte als vorher. Von der Schule erzählte sie, dass sie zu den Besten gehören würde, Zweien und Dreien schriebe und in Mathematik würde es ihr sehr gut gehen, so, als hätte es das letzte Schuljahr mit den Verständnisschwierigkeiten nicht gegeben. Da fast immer diktiert und nur selten etwas an die Tafel geschrieben wurde, schauten wir uns eines ihrer Hefte gemeinsam an. Auf einer DIN A4 Seite fanden wir lediglich zwei Groß-Klein- und einen tz-Fehler – ich kam aus dem Staunen nicht heraus!
Aus diesem Betrachten ergab sich eine neue Aufgabe für zu Hause: Lisa sollte die Schultexte täglich auf Rechtschreibung durchsehen und korrigieren; so würde sie sich keine falschen Wortbilder einprägen. Nach den Übungen, wovon Lisa die ASTRO-Übung am besten gefiel und ihr wie immer sehr gut tat, besprachen wir die Arbeit mit dem LTB. Lisa hatte bemerkt, dass sie, während sie etwas tat, nach außen und innen besser wahrnehmen würde als früher. Auf die Frage am Stundenende: Was von der Stunde möchtest du nicht missen? antwortete sie: Die Ansage.
In den folgenden Stunden machte Lisa überall sehr große Fortschritte und, worüber ich mich ausgesprochen freute, sie bekam vor dem Schreiben und Lesen keine feuchten Hände mehr! Es stresste sie nicht mehr! Das Zeugnis war fantastisch ausgefallen: Bis auf zwei Dreien hatte sie alles Zweien bekommen. Unsere Zeit näherte sich dem Ende.
Zur letzten Stunde am 24. April 2001 erschien Lisa übermüdet, weil sie am Vorabend bis spät für zwei Tests gelernt hatte. Die Bewegungsübungen halfen ihr, wacher und aufmerksamer zu werden. Für den großen Rückblick auf die gesamte Arbeit hatte ich Lisa drei Fragen gestellt:
- Was denkst du, hast du gelernt?
- Was fällt dir leichter?
- Was kannst du besser?
Lisa antwortete: Ich habe gelernt, mit meiner Schwäche „Rechtschreibung“ umzugehen. Ich weiß, was ich tun kann. Das Lesen geht leichter. Ich verstehe die Inhalte besser und es ist weniger anstrengend. Beim Schreiben achte ich auf meine typischen Fehler, weil ich sie kenne. Meine Schrift ist größer, weiter und schöner geworden und ich schreibe gerne mit einem Füller. Ich freute mich sehr mit Lisa über diese „Ernte“ und sagte ihr, dass sie selbst die „Verursacherin“ dieser Erfolge sei. Ich hätte ihr noch so viele Dinge anbieten können, wenn sie sie nicht ergriffen und in die Tat umgesetzt hätte, wäre nichts geschehen.
Lisa hat das Lerntagebuch sieben Monate lang regelmäßig geführt (dazu Interview, Frage 12) und sie war sehr dankbar, es kennen gelernt zu haben. Wir betrachteten auch mein Forschungstagebuch und immer wieder staunte sie und meinte: Das kommt mir wie gestern vor!
Ja, die Zeit war schnell vergangen. Lisa hatte in kurzer Zeit sehr viel erlebt, was sie tief beeindruckt und ihr Leben verändert hatte: ein fester Freund, die Aussöhnung mit ihrer Mutter, eine freundschaftliche Beziehung zu ihrer Stiefmutter und selbst ihr Vater hatte gestaunt, wie fest Lisa an der „Sache“ geblieben war. Und sie hatte das erste Jahr der Berufsausbildung erfolgreich absolviert. Lisa war innerlich gewachsen und stärker geworden, wozu auch viele der „leichten Neben-Übungen“, wie Jonglieren mit drei Bällen, das ABC rückwärts sprechen und Strümpfe stricken, beigetragen haben. Sie hatte gelernt, aus dem Hintergrund nach vorne zu treten, sich wichtig zu nehmen und ihre Bedürfnisse zu äußern.
Zum Abschluss erhielt Lisa von mir einige Empfehlungen für ihr weiteres Leben und das Gedicht „ Till Eulenspiegel zog einmal mit andern über Berg und Tal…“ Sie erfreute mich mit einer sehr berührenden Dankes-Karte und einigen Sprüchen, die mir in ihrem „Schönschreibheft“ gut gefallen hatten. Mit lieben Worten und vielen guten Wünschen für die Zukunft verabschiedeten wir uns.
Zu meinen drei Fragen des Forschungstagebuches hier folgende Antworten:
- Wie nützlich ist ein LTB während eines Legasthenietrainings?
Lisa hat mir im Grunde jede Stunde bestätigt, dass das LTB wirklich zu ihrem Begleiter auf dem Veränderungsweg geworden war. Kleinste Fortschritte wurden ihr bewusst, die sie ohne die Beantwortung der Fragen „verschlafen“ hätte. Das hat sie motiviert, immer weiter zu machen, nicht nachzulassen. Lisa hat bemerkt, dass es sinnvoller ist, die fünfte Frage nur dann zu beantworten, wenn wirklich eine Veränderung sichtbar wurde, aber Dinge, die ihr wichtig schienen, sofort zu notieren. Sie hat gelernt, sich selbst wahrzunehmen und prozesshaft zu reflektieren. Wo lernen junge Menschen das?
- Kann ein 16jähriges Mädchen über einen längeren Zeitraum selbstständig und regelmäßig trainieren?
Lisa hat das Training unter schwierigen Umständen begonnen. Sie war schon fast 16 Jahre alt, bevor sie erfuhr, dass sie eine Legasthenikerin ist. Die getrennt lebenden Eltern und das familiäre Spannungsfeld haben sie sicherlich belastet. Bevor sie mit dem Training begann, war es ihr ein Bedürfnis, den Vater „mit ins Boot zu nehmen“. Durch den täglichen, weiten Fahrweg konnte sie erst abends gegen 19 Uhr mit den Übungen beginnen. Niemand stand hinter ihr und sagte: Tu das noch! Der Entschluss kam ganz allein von ihr selbst. Sie tat es konsequent und ausdauernd, wohl auch, weil sie die Fortschritte im LTB sehen konnte. Bei Lisa habe ich erlebt, dass junge Menschen sehr wohl verantwortungsvoll und selbstständig handeln können.
- Wie viel Zeit braucht es, bis Lisa ganz alleine für sich selbst an ihrer Schwäche arbeiten kann?
Für Lisa war das angeleitete Training von 7 Monaten, 24 Stunden, einschließlich der Übungen zu Hause, ausreichend. Sie war hoch motiviert und hat rasch gelernt, Dinge umzusetzen und gezielt an ihren typischen Rechtschreibfehlern zu arbeiten und zu lesen. Wichtig war die vertrauensvolle Beziehung zwischen uns sowie die liebevolle Begleitung durch ihre Mutter und deren Partner.
Ausklang
Mitte Mai 2001 führte ich mit der Mutter das letzte Gespräch. Erfreut, aber auch besorgt erzählte sie mir, dass Lisa ein Baby erwarte und sie nicht wisse, wie nun alles weitergehen würde. Was für eine Nachricht! Im ersten Augenblick war ich sprachlos, doch dann freute ich mich. Lisa sei stark und könne viel schaffen, wenn die Familie und ihr Freund zu ihr halten würden. Doch was sollte mit der Berufsausbildung werden? Sie dauerte insgesamt drei Jahre, wovon Lisa erst eins absolviert hatte.
Viele Jahre habe ich dann nichts mehr von Lisa gehört. Im Frühjahr 2011 konnte ich über ihre Mutter den Kontakt zu ihr wieder herstellen. Die Mutter erzählte mir, wie gut es ihrer Tochter ginge. Ihr Freund hatte zu ihr gestanden und trotz des Babys hatte Lisa ihre Berufsausbildung abgeschlossen. Heute leben sie als Familie mit ihren inzwischen drei Kindern in dem gleichen Dorf, in dem Lisa früher wohnte. Sie sei eine ganz liebevolle Mutter, die sich viel mit den Kindern beschäftigen würde.
Lisa und ich trafen uns an einem kalten, verschneiten Wintertag Anfang 2012 bei ihr zu Hause. Sie holte mich mit dem Auto vom Bus ab und drückte mir freudig und kräftig die Hand. Das Gesicht ist deutlich konturiert, ihr Blick wach und aufmerksam und ihre durchformte Gestalt drückt Tatkraft aus. Sehr rührend ist Lisa um ihre Kinder besorgt; an vielen Tagen kommen noch die Kinder ihrer Schwägerin dazu. Und im Haus und auf dem Hof gibt es natürlich immer etwas zu tun! Lesen Sie nun, was Lisa auf die Fragen antwortete.
Interview mit Lisa am 04.01.2012
Bärbel Kahn I Lisa, wie schön, dich wieder zu sehen. Zuerst habe ich über eine ehemalige Arbeitskollegin zu deiner Mutter Kontakt bekommen und sie half mir dann, dich hier in Tirol zu finden, worüber ich mich sehr freue!
Als du vor über 11 Jahren am 25. September 2000 wegen einer Lese-Rechtschreib-Schwäche bei mir zur Überprüfung warst, hattest du die Polytechnische Schule gerade abgeschlossen und Ende Juli 2000 mit einer Frisörausbildung begonnen.
- Warum wolltest du gerade zu dieser Zeit etwas verändern? Wie bist du auf mich gekommen? Wer hat dir dabei geholfen und vielleicht auch Mut gemacht?
Lisa I Ich war aus der Schule heraus und wollt was verändern. Ich wollt nicht die Schülerin bleiben, die was ich damals war, sondern schon etwas andres machen. Und die Mama hat mich dann drauf gebracht, hat gesagt: Mei, geh zur Bärbl (Tiroler Schreibweise meines Vornamens), die kann dir helfen. Und ich hab zuerst gesagt: Ja, ja, (Lisa lacht), ganz schlimm für mich. Irgendwann hab ich gedacht: Na, wenn sie mir helfen kann und mir das weiterhilft, weil, ich will ja im Beruf stehn, ich will ja weiterkommen und ich will ja irgendwann auch meinen Kindern das beibringen können und somit hab ich das dann gern gemacht. Hab auch gehofft, dass das gut geht und so schnell wie möglich (Lisa lacht wieder).
BK I Als ich dich das erste Mal sah, dachte ich: Was für ein sonniges Kind! Große, weit geöffnete Augen, der Welt zugewandt, so schautest du mich vertrauens- und erwartungsvoll an.
- Kannst du dich erinnern, ob du wirklich so voller Hoffnung warst, wie ich meinte?
L I Das war damals wirklich so, dass ich dich gesehn und mir gedacht hab: Ja, das könnt was werden. Es ist nicht die Lehrerin von der Schule, wie man sie immer gehabt hat, sondern sie hat andere Ideen. Und ich habs wirklich gern getan und es war nicht immer fein, aber es war in dem Maße so, dass ich‘s gern gemacht hab. Und ich hab ja selber irgendwann gemerkt, dass was weitergeht.
BK I Lisa, mit 16 Jahren wolltest du einmal reisen bzw. in der Reisebranche arbeiten, weißt du das noch? Und nun lebst du hier in Tirol mit deinem Mann und deinen drei Kindern und bist wohl richtig sesshaft geworden.
- Lebt dieser ehemalige Wunsch noch in dir oder ist etwas anderes an seine Stelle getreten?
L I Mittlerweile bin ich wirklich sesshaft geworden, pflege das hiesige Brauchtum, weil es mir sehr viel Halt gibt. Es gibt mir Halt und den Kindern und das merk ich. Und jetzt bin ich zehn Jahre lang schon ganz drinnen im Ort hier und meine älteste Tochter ist 9. Und das hilft mir, das ist für mich ganz fein. Damals der Wunsch ist nachvollziehbar, aber das war eigentlich nur, wenn ich es jetzt betrachte, wollt ich ausreißen.
- Das freie Formulieren hat dir in der Schule viel Freude gemacht. Kannst du das bei deinen Kindern irgendwie anwenden?
L I Meine Kinder besitzen die Gabe. Sie erzählen und schreiben wunderschöne Geschichten, wenn du ihnen einfach nur die Möglichkeit gibst, dass du ihnen zuhörst. Wenn du ihnen die Ruhe gibst und ihnen sagst: Jetzt erzähl! Und ich erzähl ihnen auch gern Geschichten und da schaun sie mich immer an: Ist das jetzt wahr oder hat sie gelogen? (Wir lachen beide).
- Du hast auch sehr gerne gemalt und gezeichnet. Was ist aus daraus geworden?
L I Also hier hab ich ganz viel zu erzählen. Ich mal sehr gerne noch und es überrascht mich selber, wie ich manchmal… Ich mach ein Bild nicht an einem Tag, ich mach ein Bild über mehrere Tage und bau das aus und bin dann selber überrascht, wie sich das entwickelt hat. Und wie ich so manche Techniken anwende, das ist ganz lustig und interessant. Und das geb ich gerne an die Kinder weiter und sie können mittlerweile auch schon ganz gut zeichnen. Und jetzt bin ich dann irgendwann dabei, dass ich ihnen den Kreuzstich beibringe oder Bastelarbeiten mit ihnen mache, ihnen das auch weitergebe. Ich selber mach so Bilder oder Adventkalender, am liebsten mach ich Adventkalender im Kreuzstich. Und die verschenk ich dann an ganz, ganz dicke Freunde von mir. Es gibt ja in Tirol den Brauch „Zum Weißert gehen“, das ist, wenn a Kind geborn werd, dann geben die Nachbarn oder die Freunde etwas, a G’wand oder was Guts (Süßigkeit) und wir geben immer so a Nikolaussackerl, weil es bei uns in der Familie so Brauch ist. Ich hab für alle Kinder so a Nikolaussackerl gemacht. Die häng ich am 1. Advent auf und der Nikolaus holt das dann und dann kommt es gefüllt wieder. Und das find ich einfach so schön für die Kinder. Mittlerweile war im Ort schon eine Kunstausstellung und da haben sie mich gefragt, ob ich was hab zum Ausstellen. Und das hat mich ganz nett gefreut, weil, ja…Ich möcht das Künstlerische schon sehr gerne weiter ausbauen, dass man mal weiterkommt damit oder so, dass es vielleicht finanziell mal etwas nützt. Ich weiß nicht, probieren kann man‘s ja.
BK I Beim lauten Vorlesen ging es dir gar nicht gut. Das Sehen hat dich sehr angestrengt. Du warst total verspannt und unsicher; fast wollte dir die Stimme versagen. Am liebsten hätte ich dich aufhören lassen, aber ich musste mir ja ein Bild davon machen, wie es dir mit dem Lesen und Schreiben geht. Das Abschreiben ging recht gut, doch bei der Ansage stöhntest du schon vorher und wolltest nur mit Bleistift, nicht mit Füller schreiben.
- Wie hast du es die ganze Schulzeit geschafft, damit fertig zu werden?
L I In der Schulzeit… Ja, meine Lehrer waren jetzt nicht die, die auf das gepaukt haben, dass wir Buchvorstellungen machen oder so. Eine hat sogar ganz drauf verzichtet, weil sie gewusst hat, wie wir Lesen gehasst haben, die ganze Klasse das nicht mochte. Da hat sie gesagt: Das bringt nichts, da ist‘s gescheiter, ihr macht‘s ein Referat und tut‘s frei sprechen. Ich hab mich meistens fürs Referat entschieden, hab mich hingestellt und habs auch gerne gemacht, auch Riesenplakate. Mich hats immer aufgebaut, wenn ich dann einen Einser gekriegt hab und die Beste war in der Aussprache (Lisa lacht). Da war ich dann immer ganz stolz. Ich weiß noch, im Regal stand ein Buch, das hab ich gekannt und gedacht: Das stell ich vor, das brauch ich nicht zu lesen. Ja, so war die Schulzeit. Es war zwar nicht immer fein und es war auch peinlich, vor den Mitschülern vorzulesen. Also das war ganz schlimm für mich. Der Lehrer hat mir oft ein kurzes Stück gegeben und hat mir das früher gesagt, dass ich es mir mehrfach hab durchlesen können und ich mich nicht so blamier mit Lesen. Aber ich kann mich schon noch daran erinnern…
Heute geht’s mir mit Lesen sehr gut. Ich lass mich von niemandem stressen, hab für mich die innere Ruhe gekriegt, dass ich sag: So, jetzt setz ich mich hin oder meistens leg ich mich ins Bett und les! Ich fang auch drei Bücher an! Ich kann, wenn ich mir Bücher bestell – ich bestell und das ist schon ganz wichtig – dann kann ich mich nicht entscheiden, mit welchem ich zuerst anfangen soll! Wenn es mir mit dem ersten zu fad wird, dann denk ich: Okay. Jetzt leg ichs zur Seiten. Ich habs ja so weit gelesen, hab ja alles gespeichert und dann fang ich das nächste an. Und einstweilen hab ich dann drei Bücher gehabt und eines nach dem andern fertig gelesen. Ich bring die Geschichten aber auch nicht durcheinander. Ich kann zu jedem Buch sagen: Das steht drein. Und ich weiß auch, wo es ungefähr steht. Ja, ich tausch mich auch mit meiner Schwägerin ganz viel aus, weil sie liest ganz, ganz viel und sehr gut. Sie kann mir nicht sagen, was in diesem Buch gestanden ist, wenn ich danach frag. Aber ich weiß das immer und das macht mich dann ganz stolz (Lisa lacht).
Und ich les auch meinen Kindern gerne vor. Meine älteste Tochter hat eine Zeit gehabt, wo sie überhaupt nicht lesen wollt und dann haben wir es so gemacht, dass ein kleines Stückchen sie liest und ein anderes Stück dann ich. Das war für sie und auch für mich ganz viel Wert. Und der kleine Bruder sagt immer: Mama, lies mir vor! auch wenn er das Buch noch nicht wirklich versteht, weil es ein Buch von mir ist. Das ist ihm Wurscht, er hört mir ganz einfach gerne zu.
Mit Schreiben, ja, das ist besser. Meine Schwägerin ist Lehrerin und war ständig drauf bedacht, was ich geschrieben hab. Sie hat immer alles nachgelesen und immer wieder hat sie korrigiert und gesagt: Lisa, was machst du für Fehler? Wieso machst du das so? Sie hat immer hinterfragt, warum ich das so schreib. Irgendwann hat sie dann gesagt: Hör auch einmal auf, die holländischen Sachen lesen, les es auf Deutsch! Zum Beispiel „das Kaas“. Ich muss immer lachen, wenn ich „Kaas“ schreibe, weil ich das mit zwei a schreib, aber es gehört „Käse“ geschrieben. Und sie kontrolliert heute noch, hat aber auch gesagt: Wenn du dich zusammenreißt, also wenn du dich wirklich konzentrierst, bist du schon um einiges sicherer geworden. Ich bin ihr sehr dankbar dafür, weil es hilft.
BK I Unsere erste Stunde am 9. Oktober dauerte 1½ Stunden. Du warst gut ausgeruht und freudig erwartungsvoll gestimmt und hast alles sehr gut mitgemacht. Zum Schluss sagtest du: Schade, dass es vorbei ist!
- Kommt dir diese Stunde wieder in den Sinn und was ist dir davon am nachdrücklichsten geblieben?
L I Ja, es hat alles gepasst. Es war der Tag richtig, ja, das war so schön! Das weiß ich heut noch, die Sachen, die was ich gelernt hab an dem Tag, die was du mir gezeigt hast. Das nehme ich heut noch her, das mit der Malreihe oder dem ABC, vorwärts und zurück laufen. Das mach ich mit meinen Kindern heut noch. Ich versuchs halt, da stolper‘ ich erst, dann probier ich’s halt wieder. Und die ganzen Übungen! Und ich weiß wirklich noch, wie ich mir gedacht hab: Ä, ist das schon vorbei? Das ist aber schnell gangen! (Wir lachen beide.) Es war genau richtig!
BK I Du bist dann etwa 7 Monate lang sehr regelmäßig einmal in der Woche zu mir gekommen; dazwischen solltest du nach einem Plan täglich Übungen machen und anschließend noch die Fragen das LTB beantworten. Das war ziemlich viel verlangt, denn du musstest ja in deiner Frisörausbildung richtig was tun!
- Wann hast du das alles gemacht und wie hast du diese zusätzlichen „Belastungen“ erlebt?
L I Ich hab das abends gemacht und, also im Nachhinein, ich glaub das war nicht schlimm. Das hab ich gern gemacht. Und ich bin dahinter gekommen, dass es auch zum Entspannen fein war.
BK I Bereits in der zweiten Stunde hast du mit einer sehr wichtigen Bewegungsübung, der Astronauten-Übung, kurz ASTRO-Übung, begonnen, die dich bis zum Ende des Trainings begleitete. Sie sollte dir helfen, dich besser zu konzentrieren und innerlich stärker zu werden, weshalb du sie später je nach Bedarf auch zu Hause machen solltest.
- Hast du diese Übung wirklich gemacht und hat sie dir geholfen?
L I Ich weiß noch ganz genau, wie die Übung geht. (Lisa steht auf und beginnt mir die Übung richtig vorzumachen.) Und wenn ich Zeit find, das ist selten, aber ich weiß, dass ich das öfter machen sollte, mach ich sie heut noch. Ich wollt sie meiner Tochter weitergeben, aber sie hat mich nur angeschaut und gesagt, ich hätt ´nen Vogel. Einmal war es so – ich war wahrscheinlich zickig oder so – da hat mich mein Mann darauf aufmerksam gemacht, dass ich vielleicht doch die Übung machen sollte, weil es mir danach besser gehen würde (Wir lachen wieder.) Die ASTRO-Übung hat mir geholfen, mich selber wahrzunehmen und auch alles, was um mich herum ist, die Kugel, was ich rund um mich mach, die gehört mir. Und die kann ich so gestalten, wie ich sie für mich will, und ich kann danach auch wieder grad stehn.
BK I Künstlerisches Tun war ein sehr wichtiger Bestandteil unserer Arbeit.
- Was, glaubst du, haben Malen und Zeichnen bei dir bewirkt?
L I Das Ergänzen (Spiegeln von Formen) ist ganz schön anstrengend. Du musst deinen Kopf betätigen und doch kannst du entspannen dabei. Das mit den kleinen Strichen (Schrägstrichschraffur mit Kohlestift) mag ich heute noch nicht. Ich weiß nicht wieso. Es fasziniert mich, dass es mit vielen Strichen dunkel wird und mit weniger Strichen hell bleibt. Dass man so den Kontrast rausarbeiten kann, ist zwar schön, aber nicht meins. Bei den Mandalas kannst du dich richtig „austoben“. Ja, du kannst die Farben so wählen, wie du möchtest, du kannst schauen, ob sie (die Mandalas) regelmäßig sein sollen oder du kannst sie auch kreuz und quer ausmalen. War fein!
BK I Tja, und dann hast du auch stricken „müssen“! Aber ich glaube, das hast du sehr gerne gemacht.
- Gibt’s denn die Strümpfe noch und hat dir die selbst erstellte Anleitung manchmal geholfen, weitere Strümpfe zu stricken?
L I Die Strümpfe hab ich lang gehabt, hab sie oft getragen, und, sie sind kaputt! (Wieder lachen wir.) Aber ich hab dann noch mehrere Strümpfe gestrickt und irgendwann, ich weiß nicht wieso, hab ichs nimmer gemacht. (Es klopft, der kleine vierjährige Sohn will etwas von der Mama.) Aber es ist trotzdem eine Arbeit, die was ich gern mach. Also, ich würd das sicher gleich wieder können. (Ich frage nach der Anleitung.) Naa, die brauch ich nicht; glaub ich nicht. Die wird sicher in der Mappe sein, die werd ich mal suchen müssen. (Lisa hatte unsere damalige Arbeitsmappe auseinander genommen, um bestimmte Übungen für ihre Kinder herauszusuchen und wusste nun nicht mehr, wo die „Einzelteile“ waren.) Wenn jemand sagen würd: Ich möchte gern Strümpfe von dir haben, ich glaub, ich würd sie machen können; hätt ich kein Problem.
BK I Lisa, du warst in einem Alter, wo du auf dich gestellt selbstständig arbeiten musstest. Durch das Lerntagebuch sollte dir klar werden: Ja, es geht voran! Dazu solltest du nach jeder Trainingseinheit fünf Fragen beantworten, was du stets sehr gewissenhaft gemacht hast.
- Wie hast du das Tagebuch für dich erlebt?
L I Das Lerntagebuch mit den Fragen, es war… Die Fragen haben mir einfach geholfen zu sehen, was sich verändert hat, wo du sonst Kleinigkeiten nicht bemerkst. Es ist auch so, dass etwas (eine Übung) leichter und immer leichter geworden ist, dafür war wieder was anderes schwieriger gewesen. Selber zu sehen, was hat sich verändert, das ist einfach sehr angenehm gewesen, kann ich mich jetzt noch so erinnern…
BK I Sehr gerne mochtest du Sprüche und Zitate und so beschlossen wir, dass du damit beginnst, Sprüche deiner Wahl mit einer breiten Feder in ein eigenes Heft schön einzuschreiben. Dieses Heft zeigtest du mir sehr gerne und ich war oft sehr erstaunt, welche Sprüche du wähltest und wie schön du sie schriebst!
- Ich denke, dass du dieses Heft noch hast, oder? Und hast du vielleicht noch einige von selbst kreierten Kreisteilungen oder andere Sachen?
L I Diese Frage ist sehr schwierig, weil, da werd ich noch viele Tage suchen müssen, wo das Heft ist. Ich habs, ich habs lange aufbehalten und muss nur schauen, wo. (Das Heft war auch in unserer Arbeitsmappe).
BK I Natürlich haben wir auch geschrieben und gelesen und du hast fleißig an deiner Rechtschreibung gearbeitet. Auch in der Schule machtest du gute Fortschritte.
- Was davon hast du in dein jetziges Leben „mitgenommen“?
L I Ich verwend das (das, was sie bei mir gelernt hat) immer noch, nicht alles, aber teilweise und versuch’s auch bei meinen Kindern weiterzuverwenden. Ja, es hilft, es bringt schon a bissl was!
- Was ist dir von unseren Begegnungen als besonders wichtig geblieben?
L I Da ist mir einiges geblieben, was für mich ganz wichtig ist, das du mir weitergeben hast. Und ich bin ich dir ganz, ganz dankbar, dass ich jetzt schon viele Bücher hab lesen können. Meine Kinder lachen immer, wenn ich lache beim Lesen, wenn es ein lustiges Buch ist, oder ich kann auch weinen beim Lesen. Und das ist für mich ein Zeichen, dass man‘s richtig gelesen hat und dass man‘s versteht. Ich bin dir einfach dankbar, dass ich das gelernt hab von dir.
Noch zum Thema Kopfweh beim Lesen: Also, das hab ich wirklich nicht mehr. Die Buchstaben verschwinden nicht mehr oder tanzen oder so. Das ist wirklich so, dass ich mich ins Bett leg, mir das Buch nehm und dabei auch zur Ruhe komm. Das ist für mich richtig entspannend geworden, es ist keine Anstrengung mehr, kein Stress mehr oder Angst davor! Wirklich nimmer! Und das ist so angenehm.
- Lisa, wo glaubst du, hast du deine Talente? Was kannst du vielleicht besser als andere Menschen, die du kennst? Und fühlst du dich als Legasthenikerin irgendwie anders?
L I Meine Talente, ja, wie wir grade im Gespräch herausgefunden haben, ist es wohl das Soziale, so, wie ich mit andern sprech und zuhör. Ja, zuhören ist schon ein Talent von mir. Ich mein auch, malen kann ich gut, die Sachen, die was ich zeigen kann, kann ich gut! Und Geduld, das ist was, was ich wirklich hab. Geduld ist eine Tugend und das üb ich immer wieder. Es funktioniert nicht immer alles aufs erste Mal… Und zur Legasthenikerin, dass ich da anders bin: Naa, das fühl ich wirklich nicht. Bin genau wie jeder andere Mensch, ich lass mich nur nicht stressen!
- Und zum Schluss die letzte Frage: Kannst du dir vorstellen, dass wir in etwa 10 Jahren wieder so zusammensitzen und ich dich erneut befrage?
L I Ja, ich würd dich in 10 Jahren gerne wieder sehen, einfach nur um zu schauen, wie es dir geht. In der Zeit wird sich so viel verändert haben. Da einen Rückblick zu machen, das wird sicherlich lustig und nett und du bist immer gerne willkommen bei uns!
BK I Liebe Lisa, ich danke dir sehr, dass wir dieses Interview machen konnten. Es hat mich sehr gefreut, von dir persönlich zu erfahren, wie es dir und deiner Familie geht und wo du jetzt in deinem Leben stehst. Ich wünsche euch allen von Herzen das Allerbeste und freue mich schon darauf, dich spätestens in zehn Jahren wiederzutreffen. Hab vielen Dank!
Schlussbemerkung
Lisa ist eine starke Persönlichkeit. Sie ist offen, vertrauensvoll und herzlich und sie achtet und toleriert andere Menschen. Immer wieder habe ich während unserer Arbeit gestaunt, wie sicher sie Dinge anpackt und sofort umsetzt und wie stark ihre Durchhaltekraft ist. Schon damals war sie seelisch reifer und handelte verantwortungsvoller als ihre Altersgefährten und als manch Erwachsener, was sich nach 11 Jahren noch vertieft hat.
So wie Lisa von sich selbst sagt, habe auch ich den Eindruck gewonnen, dass sie ihre Lebensaufgabe gefunden hat: 27jährig führt sie mit ihrem Mann, den Kindern und vielen Freunden in ihrem Dorf ein gemeinschaftliches, erfülltes und zufriedenes Leben. Was kann man sich mehr wünschen?
Durch die Arbeit mit Lisa habe ich sehr viel gelernt, was sich mit Worten kaum ausdrücken lässt. Es ist eher das Ganze, der Gesamteindruck, der in mir Spuren hinterlassen hat. Viele Dinge sind Lisa durch das Lerntagebuch und mir durch das Forschungstagebuch bewusst geworden, die in einer normalen Begleitsituation wahrscheinlich unbemerkt geblieben wären. Auch das hat die Arbeit mit Lisa besonders gemacht.
Ich möchte mit einigen Sprüchen enden, die mir Lisa zum Abschied auf einer Karte schenkte (Verfasser unbekannt):
Ich respektiere das Gegebene. Daneben aber freilich auch das Werdende, denn eben dieses Werdende wird über kurz oder lang abermals ein Gegebenes sein.
Sich abschließen heißt sich einmauern, und sich einmauern ist Tod.
Alles Alte, soweit es Anspruch darauf hat, sollen wir lieben, aber für das Neue sollten wir eigentlich leben.