Thomas
Als ich Thomas Mitte Oktober 1999 kennen lernte, war er 11 Jahre alt und ging in die 1. Klasse einer Hauptschule. Von seiner Mutter hatte ich erfahren, dass er von Anfang an große Schwierigkeiten mit dem Lesen und richtigen Schreiben hatte. Vor allem sei Thomas sehr langsam und würde einfach nicht mitkommen. Für die Hausübungen benötige er oft zwei bis drei Stunden! Seit der 1.Klasse schrieb Thomas mit der linken Hand, sonst sei in der Familie kein Linkshänder. Die Eltern wollten wissen, warum Thomas so langsam sei und wie man ihm helfen könne, schneller zu werden und richtig zu schreiben.
Die Familie lebt in einer kleinen Stadt, nahe Innsbruck, in einem ruhig gelegenen Haus. Der Vater ist Arzt, während die Mutter Thomas und die zwei älteren Geschwister betreute und sich um Haus und Garten kümmerte. Thomas Geburt sei problemlos verlaufen und die ersten zwei Jahre hätte er sich gut entwickelt. Doch kurz vor Vollendung des zweiten Lebensjahres erlitt er im Zusammenhang mit einem Infekt einen Fieberkrampf, so dass er in einen Zustand von Bewusstlosigkeit geriet. Bis zum vierten Lebensjahr bekam der kleine Thomas dann alle zwei Monate solche Schübe. Oft half ihm nur eine Valium-Spritze, die ihm zum Glück sein Vater geben konnte. Letztmalig trat dieser lebensbedrohliche Bewusstseinszustand in seinem 10. Lebensjahr ein.
Bei seiner Einschulung war Thomas fast 7 Jahre alt. Davor hatte er zwei Jahre einen Kindergarten besucht. Thomas ließ sich in der Schule leicht ablenken und war von Anfang an bei allen schriftlichen Arbeiten sehr langsam. In den nächsten Klassen wurde er nicht schneller, so wie alle gehofft hatten. Weil er mit dem Pensum oft nicht fertig wurde, sollte er es neben den eigentlichen Aufgaben zu Hause nachholen. Die Mutter musste ihn stets dazu anhalten, denn natürlich hätte er viel lieber gespielt. In der 2. Klasse gab es dazu ein Gespräch mit der Lehrerin, die dafür sorgte, dass Thomas für die Orientierung Rechts-Links-Übungen machte. In der 3. Klasse wurde er einem Schulpsychologen vorgestellt. Er bestätigte den Eltern eine Teilleistungsschwäche im Lesen und Schreiben und wies auf Auffälligkeiten im optischen Bereich hin. Seiner Meinung nach würde sich alles noch „auswachsen“, so dass keine Maßnahmen erfolgten. Die Eltern vertrauten ihm, doch leider wuchs sich nichts aus!
Der 11jährige Thomas ging nicht gerne alleine irgendwohin und manchmal hatte er um die engsten Familienangehörigen Angst. Sein Gefühl für Zeit und Ordnung sei wenig ausgeprägt, doch würde er sich räumlich sehr gut orientieren können. Thomas sei sozial eingestellt und musikalisch. Zu Hause spiele er sehr fantasievoll alleine in seiner Spielecke. Manchmal würde er etwas viel reden…
Als Thomas zu mir kam, war er altersgemäß groß und neigte etwas zum Fülligen. Die glatten, schwarzen Haare trug er sehr kurz. Mit dunklen Augen blickte er mich aus seinem rundlichen Gesicht schelmisch und etwas verschämt von unten an. Nachdem seine Mutter gegangen war, sah sich Thomas neugierig im Zimmer um – es gefiel ihm! Doch war er sehr aufgeregt und angespannt. Er sprach viel und etwas undeutlich, noch dazu stark tirolerisch, so dass ich Mühe hatte, ihn zu verstehen. Dabei fiel mir auf, dass die oberen Schneidezähne schief standen. Kurz darauf erfuhr ich, dass er im Dezember 1999 operiert werden müsse, weil einer davon sogar noch der erste Zahn war (verzögerter und schwieriger Zahnwechsel). Was mir noch auffiel, war ein eigenartiges Nach-Innen- Schauen, aus dem er nur schwer wieder herausfinden konnte.
Freunde hätte er zwei, doch könne er auch gut alleine spielen. Sehr gerne würde er „sportln“, z. B. Klettern, Inliner und Rad fahren, Fußball und Rugby spielen und im Winter Ski fahren. Seit einiger Zeit spiele er auch Klavier. Thomas sagte noch, dass er gerne reden würde. Mit seiner vier Jahre älteren Schwester käme er ganz gut zurecht, die 20jährige sei aber nur noch wenig zu Hause.
Seine Leistungen in Mathematik schätzte Thomas als gut ein, doch sei er zu langsam. Seit er in die Hauptschule ging, käme er besonders beim Schreiben nicht mehr mit, auch, weil es oft sehr viel war. Mit dem Lesen würde es gerade so gehen, meinte er. Abends las Thomas gerne Lucky Luke und Gruselgeschichten. Während wir uns unterhielten, hatte er fast die ganze Zeit die Füße oben und rutschte unruhig hin und her. Diese motorische Unruhe konnte ich immer dann bei ihm beobachten, wenn er aufgeregt war. Sonst machte Thomas einen in sich ruhenden Eindruck. Nachdem ich ihm auch etwas von mir erzählt hatte, begannen wir mit der Überprüfung.
Auf der Einstellskala des Ersten Österreichischen Dachverbandes Legasthenie (EÖDL) schätzte Thomas seinen inneren Zustand auf 8 ein; bei 5 liegt der angestrebte optimale Zustand. Nach den Aufmerksamkeitsübungen zeigte er auf die 6. Ich war erstaunt, weil seine Einschätzung mit meiner ziemlich übereinstimmte. Die Körperdominanz war auf der linken Seite, nur beim Fuß etwas mehr rechts als links.
Vor dem Abzeichnen von vier verschieden linierten quadratischen Kärtchen (Optische Figur-Grund-Differenzierung) sagte Thomas: Das kann ich nicht so gut. Sie werden das gleich sehen.
Diese Übung zeigt mir u.a., ob ein Kind Proportionen einhalten kann, auch wenn es das Quadrat kleiner oder größer zeichnet. Thomas gab sich viel Mühe, doch war das Ergebnis tatsächlich auffallend. Die Proportionen stimmten kaum und die Vierecke waren keine Quadrate, sondern immer kleiner werdende, liegende Rechtecke. Die anderen optischen Teilbereiche absolvierte Thomas gut, doch benötigte er dafür geraume Zeit. Im akustischen Bereich fiel es ihm schwer, Gereimtes von Ungereimtem zu unterscheiden (Akustische Differenzierung). Dagegen konnte er sich einen Vierzeiler leicht und rasch merken, worüber er selber staunte (Akustisches Gedächtnis). Beim Lesen war Thomas sehr aufgeregt. Die Füße konnte er kaum still halten. Leise und flach atmend musste er immer wieder schlucken. Oft verbesserte er sich, weil er bemerkt hatte, dass er etwas Falsches gelesen hatte. Durch die ständigen Unterbrechungen und Wiederholungen kam es zu keinem Lesestrom. Den Sinn erfasste Thomas gut, doch hatte alles viel zu lange gedauert! Beim Abschreiben des gelesenen Textes versank er fast in seine Arbeit. Das optische Gedächtnis für Buchstaben war nicht gut ausgebildet. Er flüsterte die Wörter vor sich hin und verweilte oft auf der Vorlage oder auf dem Geschriebenen. Das Sehen schien ihn mehr als nötig anzustrengen. Ich erinnere mich, dass ich beim Zuschauen unruhig wurde, weil es so langsam vorwärts ging. Thomas machte nur einen Fehler: anstatt „die“ schrieb er „dei“; andere „die“s schrieb er dann richtig ab. Die Ansage verlief ähnlich langsam. Da Thomas wie beim Lesen motorisch sehr unruhig war, beendete ich sie nach zwei Zeilen. Darüber war er sehr froh!
Thomas schrieb noch so, wie er es in der Volksschule gelernt hatte. Die Buchstaben waren etwas steil und spitz geformt, die Zeilen- und Wortabstände passend zur Schriftgröße. Die Unterlängen waren auffallend kurz, was immer ein Anzeichen für eine beeinträchtigte Atmung ist. Die stark nach rechts unten abfallenden Zeilen verliefen bis dicht zum rechten Blattrand (Hinweis auf Traurigkeit und Raumlageschwäche). An vielen Stellen konnte man sehen, dass er beim Schreiben mitten im Wort abgesetzt hatte.
Danach war unsere Zeit vorbei. Das, was ich bisher und auch später immer mit allen Kindern geschafft habe, war mit Thomas nicht möglich. Als ihn die Mutter zur vereinbarten Zeit abholte, sagte ich es ihr. Da lächelte sie mich an und sagte: Genau das ist es!
Einige Tage später führte ich mit der Mutter ein auswertendes Gespräch und machte sie auf folgende Probleme besonders aufmerksam:
- Flache Atmung (innere Angespanntheit)
- Nach innen gedrehte Füße, unbeholfenes Gehen
- Angestrengtes Sehen
- Differenziertes Hören
- Optische Figur-Grund-Differenzierung
- Leichte Orientierungsschwäche
- Leichtes Lispeln
Ich erklärte die noch ausstehenden Übungen und wie ich mit Thomas arbeiten würde. Manche Übungen machte ich auch vor, was oft anschaulicher ist und schneller geht, als wenn man sie lange erklärt. Sie wollte alles mit ihrem Mann besprechen und mich informieren, wenn es zu einer Zusammenarbeit kommen würde. Der Ort, in dem die Familie lebte, war etwa 30 bis 45 Autominuten entfernt. Das wollte wohl überlegt sein! Schon bald bestätigte sie mir, dass sie die Hilfe für Thomas gern in Anspruch nehmen würden. Es sei zwar organisatorisch nicht so einfach, doch sähen sie darin eine gute Möglichkeit für ihren Sohn.
So kam Thomas am 3. November 1999 zur ersten Stunde zu mir. Er schien weniger aufgeregt als bei unserer ersten Begegnung, doch war er nach der Schule und der Autofahrt ziemlich müde. Das war dann fast immer so und benötigte besondere Aufmerksamkeit. Thomas lernte sogleich die „Denkmütze“ kennen, die ihm auch zu Hause helfen sollte, wacher und frischer zu werden. Die Übung heißt in Österreich „Ohrwaschl reiben“, was er sehr lustig fand. Überhaupt konnte Thomas sehr herzhaft lachen!
Die Überprüfung des mathematischen Bereiches dauerte dann fast den Rest der Stunde. Tatsächlich konnte Thomas mit Zahlen besser als mit Buchstaben, Wörtern und Sätzen, umgehen, war aber auch hier sehr langsam. Ich bekam den Eindruck, als würde sich in ihm etwas stauen, so dass das, was er tun wollte, nur schwer in Gang kam. Ich weiß nicht, wie ich es besser ausdrücken soll. Ich beschloss, dass Thomas nach dem Erlernen der Aufmerksamkeitsübungen aquarellieren würde. Am Stundenende ließ ich ihn ein wenig mit der Leseschablone probieren und gab ihm für zu Hause für die ersten Wochen einige Aufgaben in einer gesonderten Mappe mit. Er sollte täglich die Aufmerksamkeitsübungen machen, abwechselnd 4 Kärtchen abzeichnen oder eine Übung für die akustische Differenzierung machen und am Ende immer 5 Minuten mit der Schablone lesen. Im Verlauf der Stunde hatte Thomas rote Wangen bekommen und machte beim Gehen einen zufriedenen Eindruck auf mich. Ein guter Start!
Als Thomas zur zweiten Stunde kam, ging er wie ein „alter Bekannter“ ins Zimmer; die Mappe mit seinen Aufgaben hatte er immer dabei. Er erzählte von der Schule und zeigte auf der Skala wie er sich fühlte. Wieder stimmte es mit meiner Wahrnehmung gut überein. Thomas befand sich oft in einem doppelten Zustand: Der Körper war müde, zwischen 3 und 4, sein innerer seelischer Zustand aber im aufgeregten Bereich bei 6 bis 7. Die Aufmerksamkeitsübungen, die er nach und nach erlernte, halfen, diese Differenz zu verkleinern. Danach fühlte sich Thomas meist zwischen 4 ½ bis 5 ½. Nach der
„Denkmütze“ und einer Kopfmassage konnten wir beginnen. Mit Hilfe eines „Spruches für die Füße“ verbesserte sich bei Thomas nach einigen Stunden die Beweglichkeit seiner Fußgelenke. Sehr schnell konnte er den Spruch rhythmisch und gut betont mitsprechen – er war wirklich hoch begabt beim Sprechen und Auswendiglernen! Einige Bewegungsübungen offenbarten, dass seine Körperkoordination, besonders zwischen oben und unten, etwas Nachhilfe brauchte. Laufen und Klatschen, dazu die Dreierreihe vorwärts und rückwärts aufsagen, begleitete Thomas viele Stunden lang. Eine Überkreuzübung im Knien, konnte Thomas anfangs nur schwer richtig ausführen. Sprachübungen sollten helfen, seine Aussprache zu verbessern und die Atmung zu vertiefen. Das Mond-Sonne-Bild zeigte, dass den Augen die Farben Blau und Rot richtig zugeordnet waren, auch später noch.
Stehend zeichnete Thomas in den ersten Stunden den Liegenden Achter mit Wachsmalkreiden auf großformatiges Papier, wobei er sehr fest aufdrückte. Ab der 5. Stunde malte er ihn dann mit roter Aquarellfarbe auf das zuvor völlig gelb ausgemalte DINA 2 große Blatt. Das half ihm sehr beim Lösen seiner inneren Verspanntheit, die ich als sehr stark in Erinnerung habe (siehe Interview, Frage 8). Sehr anstrengen musste sich Thomas bei den Spiegelungen, die ihm insbesondere beim Zahnwechsel helfen sollten. Eine erste Buchstaben-Überkreuz-Übung (BÜÜ) forderte Thomas ebenfalls heraus. Die Bewegungsabläufe waren langsam und immer wieder unterbrach er um zu schauen, so dass er zum Aufsuchen, Abstreichen und Aufschreiben von 34 Buchstaben 8 Minuten benötigte! Bei einem Blitzdiktat – ich zeigte ihm kurz jedes Wort einzeln – ist zu sehen, wie schwer es Thomas damals mit dem Schreiben hatte. Fehler machte er nur wenige.
So vergingen die ersten Stunden. Thomas kam regelmäßig und gerne und machte die Übungen alle gut mit. Am besten gefielen ihm die Sprachübungen. Auch zu Hause machte er die Aufgaben recht gut, wohl, weil ihn seine Mutter regelmäßig dazu anhielt. Schon nach etwa 6 Wochen konnte man an den gezeichneten Kärtchen, die nun eher Quadraten glichen, eine Lockerung erkennen. Die Striche waren zügiger, leichter und fast gerade ausgeführt, die Proportionen stimmten in etwa, doch trafen die Linien noch ungenau zusammen.
Für zu Hause bekam Thomas eine neue Übung. Er visualisierte Wörter, die er immer wieder falsch schrieb (Problemwörter) oder solche, die er für die Schule brauchte. Dazu führte er ein eigenes Heft.
In dieser Zeit wurde Thomas am Oberkiefer operiert, was ihn sehr mitnahm. Über den Jahreswechsel konnte er sich davon etwas erholen. Da ich nicht wusste, wie sich die Operation auswirken würde, empfahl ich den Eltern, mit der Sehanalyse noch abzuwarten.
Im neuen Jahr 2000 begann Thomas neben den anderen Übungen auf dem Trampolin zu hüpfen, wofür ich mir einige strukturgebende Übungen ausgedacht hatte. Beim Hüpfen werden Bewegungen zwischen oben und unten koordiniert, Sprache und Handeln zusammengeführt und die Atmung beschleunigt und vertieft. Es sieht immer so einfach aus, wenn jemand auf dem Trampolin herum hüpft, doch wenn es sinnvolle Übungen sind, hat es große und vielseitige Wirkungen. Nach dem Hüpfen beruhigte Thomas seine Atmung, indem er einzelne Laute in einer bestimmten Abfolge mehrmals hintereinander sprach. Die neuen Sprachübungen wählte ich ebenfalls unter dem Aspekt der Atmung aus. Thomas tendierte dazu, zu wenig auszuatmen (asthmatisch). Bei „Du Dachdecker da!“ und „Barbara saß nah am Abhang“ musste er der Mund weit öffnen, damit die A-Vokale die Worte gut tragen und am Ende alle Luft verbraucht war. Diese Sprüche haben Thomas länger begleitet. Mit den Jonglierballübungen war er inzwischen so vertraut, dass er bereits die 12er Reihe vorwärts und rückwärts üben konnte. Sehr interessant für mich war, seine innere Gelöstheit, die einer Weitung gleich kommt, an seinem Geschriebenen sehen zu können.
Als ich der Mutter in unserem Entwicklungsgespräch nach 10 Stunden davon berichtete, freute sie sich sehr. Sie bestätigte die deutlichen Entwicklungsschritte ihres Sohnes, insbesondere sei er wacher geworden und könne konzentrierter arbeiten als vorher. Mit den Schulaufgaben würde er meist von selber beginnen; sie bräuchte ihn nicht mehr zu drängeln und zu schubsen. Dadurch hätte sich das ganze Familienklima verbessert. Im letzten Diktat hatte Thomas nur 5 Fehler gemacht; die visualisierten Wörter hatte er fast alle richtig geschrieben. Zu Beginn des Schuljahres waren es noch 19 Fehler gewesen! Und das Erfreulichste war: Thomas würde nun beim Schreiben in der Schule mitkommen! Auch beim Lesen hätte sich Thomas sehr verbessert. So große Fortschritte hatte ich nicht erwartet!
Im Februar 2000 begann Thomas anstatt der Dreierreihe das ABC vorwärts und rückwärts zu laufen und zu sprechen. Durch sein sehr gutes akustisches Gedächtnis und das rhythmische Gehen gelang es ihm sehr schnell, alle Buchstaben zu beherrschen (siehe Interview, Frage 6). Zur Schulung des genauen Sehens und zur Verbesserung des mündlichen Ausdrucks unter besonderer Berücksichtigung der richtigen Präpositionen, begann Thomas Bilder zu betrachten und zu beschreiben. Das fiel ihm anfangs nicht leicht; er benannte die Dinge, konnte sie aber nur schwer beschreiben. Für zu Hause hatte Thomas Mandalas neu dazu bekommen, die er gerne mit Farbstiften sehr kräftig ausmalte. Über die Linien sollte er möglichst nicht zeichnen, was ihm nach und nach besser gelang. Thomas liebte seine Mandalas und hat sie nach meiner Begutachtung alle wieder mitgenommen.
In unserem nächsten Gespräch im März erzählte mir die Mutter begeistert: Thomas würde seit den Halbjahresferien gerne zur Schule gehen! Welch wunderbare Veränderung! Dies setzte sich bis zum Mai 2000 fort. An den Übungen hatte sich nichts Wesentliches verändert.
Thomas war größer und schlanker geworden und hatte viele Fähigkeiten weiter entwickelt. Die Mutter berichtete, er sei lockerer geworden und würde Dinge leichter nehmen können. Er würde aktiver mitmachen und sich mehr zutrauen. Thomas fühle sich zu Hause wohl und auch in der Schule ging es ihm etwas besser. Bei den letzten Schularbeiten hatte er in Mathe in der 2. Leistungsgruppe (LG) eine 1 und in einem Deutschaufsatz ebenfalls eine 1 geschrieben; Fehler hätte er aber noch „genügend“ gemacht! Und in Englisch sei er in die 2. LG hoch gestuft worden. Die Eltern freuten sich sehr über diese schöne Entwicklung und wollten, dass Thomas weiter zu mir kommt. Das Erreichte sollte stabilisiert und weiter ausgebaut werden; wichtig sei die Verbesserung der Rechtschreibung.
Nach wie vor kam Thomas bis zum Schuljahresende gerne und sehr regelmäßig. Geduldig zeichnete er zu Hause die 4 Kärtchen, manchmal sehr gut, ein anderes Mal auch rasch und flüchtig. Im Interview, Frage 6, staunte Thomas sehr über die vielen Kärtchen! Zur Verbesserung des Raumlagegefühls spiegelte er halbe Mandalas. In unseren Stunden, aber auch zu Hause, übte er sich weiterhin in Bildbeschreibungen, diesmal verstärkt unter dem Aspekt, Vordergrund und Hintergrund deutlich zu unterscheiden. Das tägliche Lesen mit der Schablone begleitete ihn ebenfalls weiter.
Thomas erlernte einige neue serielle Bewegungsübungen, z. B. 1 – 2 – 3 – 4 und die Seilübung
„Nähmaschine“. Zur Schulung der inneren Denkbeweglichkeit und der genauen Ausführens zeichnete Thomas den bewegten Liegenden Achter an der Tafel. Für die Atmung machte er die Übung „Luftballett“ (siehe Linas Geschichte), die er immer sehr spaßig fand und wir viel lachen mussten. Außerdem sprach er nun kräftige Stabreime.
Thomas lernte die „Kontrollhilfe in 7 Schritten“ kennen, mit deren Hilfe er seine Texte auf mögliche Fehler selbst überprüfen konnte. Wir füllten die Kontrollhilfe gemeinsam aus und wendeten sie in den Stunden einige Male an. Dazu gehörte, einen Text gut zu lesen und zu bearbeiten. Außerdem hatte Thomas ein Heft angelegt, in dem er die wichtigsten Rechtschreibregeln mit Beispielen festhielt. Neu war auch der Rückblick am Stundenende.
Weil Thomas vor allen Schularbeiten immer sehr aufgeregt war, konnte er am Abend zuvor meistens nicht gut einschlafen. Stets glaubte er, mit der Zeit nicht auszukommen. Deshalb erlernte er mehrere Übungen zum Loslassen und Entspannen. Ich glaube, dass ihm seine Erfahrungen aus den ersten Schuljahren noch sehr „nachhingen“. Um sich in eine ruhige Verfassung zu bringen, machte Thomas manchmal direkt vor den Arbeiten den Liegenden Achter. Es hätte ihm tatsächlich geholfen, erzählte er mir später (siehe auch Interview, Frage 5).
Anfang Juli 2000 kam Thomas zur letzten Stunde des Schuljahres. Seine Mutter, die ihn wie immer abholte, meinte, wir würden uns wohl wiedersehen. In einem Telefonat hatte sie es bereits angedeutet. Die Eltern hatten den Eindruck, dass Thomas noch nicht genügend gefestigt sei und auch mit der Rechtschreibung noch etwas weiter kommen sollte. Wir verabschiedeten uns und Thomas ging froh und beschwingt, die großen Ferien schon im Blick, aus dem Zimmer. Er hatte im vergangenen Jahr viel geschafft. Der Übergang von der Volksschule in eine weiterführende Schule ist für alle Kinder ein großer, oft schwerer Schritt und für Kinder wie Thomas noch schwerer. Außerdem hatte er zwei Kieferoperationen über sich ergehen lassen müssen und eine Zahnspange bekommen. Der verzögerte und schwierige Zahnwechsel hatte ihn beim Sprechen beeinträchtigt und auch innerlich sehr beschäftigt.
Am 13. September 2000 führte ich mit Thomas einen Wiederholungstest durch. Er war wenig gewachsen, aber schmaler geworden und blickte etwas ernst. In den Ferien war es ihm mit seiner Familie im Ausland leider nicht so gut ergangen. Mit einem älteren Campingbus hatten sie mehrere Pannen erlebt und später hatte Thomas Seeigel gegessen und starkes Bauchweh mit Erbrechen bekommen. Nach fünf Tagen beendeten die Eltern den Urlaub vorzeitig und kehrten nach Hause zurück. Eine Woche bei der Jungschar hatte Thomas gut gefallen. Sonst sei er viel draußen mit dem Rad gefahren, hätte etwas gelesen, ferngesehen, am Computer gespielt, war auch mal im Kino; also ganz unaufgeregt. Thomas schien insgesamt doch recht gut erholt.
Die Ergebnisse der Überprüfung ergaben, dass in den Wahrnehmungsbereichen und auch bei den seriellen Fähigkeiten noch etwas zu tun war. Das ausdauernde und geduldige Zeichnen der Kärtchen hatte sich gelohnt. Obwohl die Proportionen noch nicht ganz stimmten, hatte sich Vieles zum Positiven verändert. Lautes Lesen verursachte noch immer Stress, doch waren die Symptome nicht mehr so stark ausgeprägt. Das optische Gedächtnis für Symbole (Buchstaben, ganze Wörter u.a.) hatte sich deutlich verbessert. Thomas konnte sich bis zu drei Wörter merken! Seine Schrift war größer und weiter geworden; sie wirkte harmonischer und nicht mehr so spitz. Die Unterlängen waren deutlich zu sehen und die Zeilen fielen weniger stark nach rechts unten ab. Das Schreibtempo war flüssiger, aber noch immer langsam. Dass sich während des Schreibens etwas staute, konnte ich nicht mehr wahrnehmen. Gleich im ersten Satz hatte Thomas anstatt „Das“ „Die“ abgeschrieben, was ihm auch bei der Kontrolle nicht auffiel. Am Ende eines Wortes hatte er ein „e“ weggelassen und einmal anstatt eines langen „ie“ ein kurzes „i“ geschrieben. Die Ansage offenbarte Unsicherheiten bei der Groß-Klein-Schreibung. Mitten im Wort hatte Thomas einen Buchstaben ausgelassen, sich bei 23 Wörtern dreimal verschrieben und mehrmals durchgestrichen. Am Ende korrigierte er den Text und fand selbst zwei Fehler. Das Geschriebene machte einen sehr unsicheren Eindruck.
Ich hatte besonders darauf geachtet, wie Thomas beim Schreiben den Kopf hielt, wie groß der Arbeitsabstand war und ob er sich beim Sehen anstrengen musste. Seine Arbeitshaltung, die Buchstabenauslassungen sowie das Abschreiben eines falschen Wortes legten die Vermutung nahe, dass er nicht gut sehen konnte. So empfahl ich den Eltern beim auswertenden Gespräch, bald eine Sehanalyse durchführen zu lassen.
Ich wollte mit Thomas auf das Erreichte des vergangenen Jahres aufbauen. So machte er weiterhin die für ihn so wichtigen Aufmerksamkeits- und Entspannungsübungen. Zur Verbesserung der Konzentration erlernte er die Astronautenübung (ASTRO) und einige neue serielle Bewegungsübungen. Damit sich das „p“ und das „b“ deutlicher voneinander unterschieden, sprach Thomas „Pralle Pilze platzen plötzlich“ und „Bei biedern Bauern bleib brav“, später Hexameter für die Atmung, wozu er auch lief. Des Weiteren zeichnete er über viele Stunden eine komplexe, vierfache Spiegelungsform, anfangs mit mir als Partnerübung, später alleine. Sie sollte sich positiv auf das Sehen und die gesamte Entwicklung auswirken. Thomas brachte seine selbst zusammengestellten Wortketten von zu Hause mit, sagte sie auf und anschließend diktierte ich sie ihm. Sehr oft schrieb er alle 10 Wörter richtig.
Noch im September 2000 informierte mich die Mutter über die Untersuchung der Augen. Sie hatte ergeben, dass Thomas weitsichtig war. Sehr bald bekam er eine Brille, die er bei mir regelmäßig trug. Seine Arbeitshaltung beim Schreiben und auch sein Schriftbild veränderten sich deutlich. Dadurch wurde mir wieder bewusst, wie wichtig es ist, gut sehen zu können.
Thomas machte in unseren Stunden überall gute Fortschritte. In der Schule hatte er im Oktober in einem Übungsdiktat nur einen Fehler gemacht! Doch zogen die Anforderungen und das Pensum in der 2. Klasse der Hauptschule deutlich an. Da Thomas‘ Schreibtempo noch immer langsam war, begann er neuen „alten“ Stress zu bekommen. Außerdem litt er unter sozialen Problemen; einige Kinder hatten ihn ausgelacht, weil er anders aussehen würde. Alles zusammen führte zu Bauchweh, auch in den Ferien, und zu Schlafproblemen.
In unserem Gespräch Anfang November empfahl ich der Mutter, die Bauchschmerzen vom Arzt (Vater) abklären zu lassen und Thomas zur Beruhigung und zum Einschlafen Bachblüten zu geben. Ich erzählte ihr, dass Thomas die ASTRO-Übung sehr gut tun würde. Thomas könne die Übung jeden Morgen ausführen, um sich in eine ruhige und strukturierte Tagesverfassung zu bringen. Zudem wirke die Übung auch verstärkend auf das Selbstwertgefühl. Außerdem wäre es schön, wenn Thomas als Gegenpol zu den Schwierigkeiten in der Schule etwas mehr Aufmerksamkeit von zu Hause bekäme. Würde genügend Zeit eingeräumt, damit er seine Probleme erzählen könne, wäre schon viel geholfen. Er würde den Rückhalt der Familie spüren.
Von zu Hause berichtete die Mutter, dass sich Thomas vermehrt weigere, Dinge zu tun. Er würde viel herum reden, um Aufgaben nicht tun zu müssen. Dagegen erlebe sie ihn beim Sportln ganz in seinem Element. Er sei weniger unbeholfen und freier in den Bewegungen geworden. Auch das Klavier spielen bereite ihm vermehrt Freude. Weil er sich Melodien rasch merken könne, spiele er nur wenig nach Noten. Insgesamt hatte sich Thomas wieder gut weiterentwickelt; am erfreulichsten waren seine Verbesserungen beim Schreiben. Die Eltern wollten die Arbeit mit mir fortführen und so begann der nächste Trainingsabschnitt, der bis Mitte Januar 2001 dauerte.
In unseren Stunden malte Thomas neben den bekannten Übungen das Aquarell „Blauer Himmel und gelbe Sonne“, welches dazu beitragen sollte, dass er leichter und flüssiger lesen konnte (siehe Lisas Geschichte). Außerdem wirkt sich das Malen mit Wasserfarben immer lösend auf innere Verspannungen aus. Mir ist oft geschehen, dass ich alleine beim Zuschauen ruhiger und entspannter wurde und mich danach um Vieles besser fühlte.
Die Aufmerksamkeits- und Entspannungsübungen führte Thomas inzwischen selbstständig aus. Immer wieder konnte ich erleben, wie sehr sie ihm halfen, in einen ausgeglichenen und wachen Zustand zu kommen. Er erlernte weitere Übungen zum Entspannen, die er auch zu Hause oder in der Schule machen konnte. Verschiedene Klatsch- und Stampfübungen, die koordinierend und stressreduzierend wirken, forderten Thomas heraus. In manchen Stunden, wenn er gut geschlafen und in der Schule schöne Erlebnisse hatte, gelangen sie ihm gut, sonst weniger. „Unangenehme Dinge“ verursachten bei ihm starke Gefühlsschwankungen. Meistens verhalf ihm die ASTRO-Übung dazu, sich in seine Mitte zu finden. Vor den Lese- und Schreibübungen machte er zum besseren Hören und Denken dreimal die „Denkmütze“. Thomas arbeitete weiter mit der „Kontrollhilfe“ an der Verbesserung seiner Rechtschreibung – die Texte, die er zu Hause damit kontrollierte, waren Rätsel.
Rätsel haben ihren ganz eigenen Reiz. Intellektuell und ganz rasch lassen sie sich nur selten knacken. Ist man geduldig und handhabt sie vorsichtig, eröffnen sie sich meist von selbst. Am besten ist es, wenn man sich ein Rätsel mehrmals am Tage laut vorliest. Man kann es sich auch vorlesen lassen; einmal direkt vor dem Schlafen. Dann geschieht es, dass die Lösung irgendwann einfach da ist.
Thomas nahm die Rätsel gerne an und beim Interview konnte er mir sogar noch eines davon aufsagen. Sein Gedächtnis ist phänomenal!
Er hat viele Zähne, kann doch nicht beißen.
Passt du nicht auf, kann er zerreißen!
Am 6.12.2000 erzählte er mir stolz, er hätte in einem Deutschaufsatz einen guten Dreier geschrieben; für Englisch müsse er noch viel lernen, die nächste Arbeit würde anstehen. In der Schule würde er sich wegen der Hänseleien noch immer nicht so recht wohl fühlen.
Als Thomas im Januar des neuen Jahres zur 40. Stunde kam, berichtete er strahlend, er hätte die zweitbeste Englischarbeit geschrieben und einen guten Zweier bekommen. In den Ferien hatte er eine Woche in einem Skiclub trainiert und bei einem Rennen einen guten Platz belegt. Ich sah ihm an, wie sehr ihn das freute und aufbaute. Nach dem Gespräch startete er wie immer mit den Anfangsübungen; die anderen Übungen schlossen sich an. Vieles gelang Thomas an diesem Tag sehr gut, einfach, weil es ihm wirklich gut ging! Zur Verbesserung der Formkraft und der inneren Denkbeweglichkeit kam an der Tafel die Zeichenübung Zahlensterne dazu. Zu Hause sollte Thomas diesen und später weitere Sterne noch einmal auf ein DIN A3 Blatt zeichnen. Die Übung zur Optischen Figur-Grund- Differenzierung veränderte sich so, dass sich Thomas ein Kärtchen ansah, verinnerlichte und aus der Erinnerung aufzeichnete. Dreimal wöchentlich sollte er derart zwei Kärtchen zeichnen.
Zur darauf folgenden Stunde erlebte ich Thomas in einer schlechten Verfassung. Der Lärm seiner 20 Klassenkollegen hatte bei ihm so starkes Kopfweh verursacht, welches auch nach mehreren Stunden noch nicht abgeklungen war. Es gibt Studien zur Lärmbelastung in Klassenräumen. Die Ergebnisse sind erschreckend, denn der Lärm erreicht und übersteigt oft die Schmerzgrenze (lauter als auf dem Flugplatz).
Nachdem ich mit Thomas eine entspannende und schmerzlindernde Übung durchgeführt hatte – meine Hände an seine Stirn und den Nacken halten, die Schmerzen abnehmen, durch mich hindurch in die Erde ableiten, dabei beruhigende Worte sprechen – konnten wir vorsichtig mit den Übungen beginnen. Wieder konnte ich die heilsame Wirkung von Atem- und Bewegungsübungen wahrnehmen – der Körper kommt in Schwung und der Kopf wird frei. Danach ging es Thomas wesentlich besser. Später habe ich in solchen Notfällen auch Tropfen oder Bonbons von Dr. Bach gegeben. Sie entspannen und beruhigen, so dass die Schmerzen ohne Nebenwirkungen bald nachlassen.
In den letzten Stunden hatte mir Thomas immer wieder von guten Noten erzählt, so am 24.01.2001 von einer Drei in einer Deutscharbeit und am 31.01.2001 von einer Zwei in Mathematik.
Am 7. Februar hatte er dunkle Augenringe und sah sehr blass aus. Seit Tagen blies ein starker Föhn und am nächsten Abend war der Mond voll. Dieses Zusammentreffen hatte verursacht, dass er kaum schlafen konnte. Als die Kinder an diesem Tag einen Film anschauten, war ihm im Halbdunkel sogar schwindelig geworden. Da halfen selbst die Aufmerksamkeits- und Bewegungsübungen nur wenig, die Thomas willig, aber ohne viel Schwung ausführte. Er konnte sich kaum konzentrieren. Ich meine, wir haben dafür etwas länger mit dem „Klappspiel“ gespielt. So eine erhöhte Wetterfühligkeit konnte ich in Österreich immer wieder auch bei anderen Kindern wahrnehmen, besonders bei 12 bis 14jährigen Jungen.
Nach den Semesterferien berichtete Thomas von den Zeugnisnoten. Er hatte alles Zweien und Dreien bekommen, nur in Deutsch eine Vier. Darüber ärgerte er sich sehr; ich konnte ihn nur wenig trösten. Ich erinnere mich, dass ich selbst hier zum ersten Mal so richtig wütend auf Schulnoten wurde. Thomas hatte so viel zusätzlich gemacht, sich so angestrengt, und nun erhielt er als Lohn eine schlechte Zensur! Sein Bemühen und die Verbesserungen zählten einfach nicht!
Am 28.02.2001 kam Thomas zur letzten Stunde. In einem Zeitraum von 16 Monaten war er insgesamt 46mal bei mir gewesen. Seine Haltung und der Gang hatten sich verändert. Thomas blickte wacher und „mutiger“ in die Welt. Ein Nach-Innen-Wegträumen und dort verharren war kaum noch wahrnehmbar. Das leichte Lispeln war verschwunden und seine Aussprache konturierter geworden. Beim Scheiben und auch anderen Tätigkeiten war Thomas merklich schneller geworden. Dank der „Kontrollhilfe“ und der gezielten Arbeit an einzelnen Regeln hatte er sich bei der Rechtschreibung sehr verbessern können. Die verschiedenen Aufmerksamkeits- und Entspannungsübungen konnte er selbstständig ausführen. Am Ende legte ich ihm die ASTRO-Übung, die ihm stets sehr gut geholfen hatte, besonders ihm ans Herz.
Erleichtert und dankbar und mit dem Gefühl etwas Wichtiges geschafft zu haben, verließ Thomas das Zimmer. Ihm war bewusst, dass er sich zukünftig selber helfen konnte. Und ich vertraute darauf, dass sich seine Mutter weiter so gut darum kümmern würde, so wie sie es die ganze Zeit über getan hatte.
Als wir uns nach fast elf Jahren wiedersahen, überragte mich der sehr schlanke, 23jährige Thomas um etwa 20 Zentimeter. Er schaute etwas nachdenklich und suchend in die Welt. Lesen Sie nun, was er auf die Fragen antwortete.
Interview mit Thomas am 29.12.2011
Bärbel Kahn I Hallo, Thomas, ich grüße dich. So sehen wir uns wieder. Das hätten wir damals beide nicht gedacht, was?
- Weißt du noch, wie es dir in der Schule ging, als du im Oktober 1999 zu mir kamst? Du warst im September gerade 11 Jahre alt geworden und gingst in die 1. Klasse Hauptschule.
Thomas I Der Umstieg in die Hauptschule war mit keiner größeren Aufregung verbunden, weil ich das Ganze eher neutral betrachtet hab, war schon etwas, aber nur wenig aufregend. An viel kann ich mich nicht erinnern, aber was ich noch sehr gut weiß, dass da zwei Lehrer waren, die doch sehr herausgeragt haben. Zwar war das mein Deutschlehrer, der mich immer unterstützt hat und auch sehr aufgeschlossen der Legasthenie gegenüber war. Er hat meine Stärken erkannt und versucht, mir zu helfen und mich zu fördern. Dagegen mein Klassenvorstand, eine Frau, hat mich vorsätzlich klein gemacht und mir das Gefühl gegeben, dass ich nicht in der Lage sei, irgendeine Leistung zu erbringen.
BK I Thomas, du bist von drei Kindern das jüngste in deiner Familie.
- Wie ist das mit deinen älteren Schwestern? Hatten sie in der Schule ähnliche Probleme wie du?
T I Meines Wissens haben meine Schwestern keine Probleme dieser Art gehabt. Von der älteren weiß ich weniger, da der Altersunterschied einfach zu groß war, um sie in der Schule aktiv zu erleben. Aber von der jüngeren weiß ich, dass sie eine sehr gute Schülerin war.
BK I Als ich dich bei unserm ersten Gespräch fragte, was du neben der Schule gerne machst, zähltest du viele sportliche Aktivitäten auf, z. B. Hockey, Fußball und Rugby spielen, mit Inlinern und dem Rad, im Winter Riesenslalom fahren und klettern. Außerdem hast du gerne alleine selbst erfundene Spiele und mit Karten, Keyboard und Klavier gespielt und nur manchmal, wenn dir langweilig war, hast du ferngesehen. Wie ich schon weiß, bist du später mit einer Sportart ziemlich groß heraus gekommen.
- Kannst du uns einmal erzählen, was es war und wie es dazu gekommen ist? Welche Erfolge hast du darin erzielt?
T I Ja, zum Radfahren bin ich damals kommen, als ich noch aktiv Skigefahren bin und eigentlich a bissl zu dick war, was für die meisten Sportarten nicht so gut angeht. Dann hab ich mir gedacht: Ich möchte a bissl abnehmen. Ich hab gerne Radl gefahren und überlegt, ich könnt das auch leistungsmäßig mal probieren, mal Rennen zu fahren. Und das hat dann a bissl eine Eigendynamik bekommen, weil ich sehr gerne Rennen gefahren bin und auch nicht verlieren wollt, ich wollt gewinnen! Mit der Zeit ist dann aus hobbymäßig ein paar Rennen fahren ein Leistungssport nach Trainingsplan geworden. Die Ernährung, das ganze Leben hat sich dann auf den Sport ausgerichtet. Die Schule ist natürlich dabei zu kurz kommen, aber…hab halt das Nötigste getan, um durchzukommen. Somit bin ich ins Österreichische Nationalteam, ins Juniorennationalteam der Radfahrer gekommen. Mein größter Erfolg war sicher die Teilnahme an der Junioren WM, wobei ich mir diesen Startplatz mit zahlreichen Siegen im Inland und einem Stammplatz im Österreichischen Nationalteam erkämpft hatte. Für mich war Radsport zwar eine Zeit lang der Mittelpunkt meines Lebens, jedoch hab ich immer gewusst, dass ich es nie zu meinem Beruf machen wollte. Daher hab ich auch den Fokus darauf gelegt, dass ich die Schule zumindest irgendwie abschließe (Thomas lacht leise).
BK I Das ist ja sehr interessant, was du da erzählst. Da gehört schon sehr viel Ehrgeiz und Ausdauer dazu und der Glaube, dass man es schaffen kann, vorne dabei zu sein. Toll! Meine Hochachtung!
Nun noch einmal zurück zur Schule. Gelesen hast du damals am Abend Lucky Luke und Gruselgeschichten, später im Januar 2001 hast du dich sogar an den ersten Teil von Harry Potter herangewagt. Laut vorlesen aber war dir ein Gräuel, es hat dich total gestresst.
- Musstest du das manchmal in der Schule machen oder haben dich die Lehrerinnen und Lehrer damit verschont, weil sie wussten dass du eine LRS hast? Hatten sie Verständnis für dich und haben dir irgendwie geholfen?
T I In der Hauptschule wurde ich größtenteils vom lauten Vorlesen verschont, was auch gut so war. Der schon erwähnte Lehrer hat sehr viel Verständnis für die LRS aufgebracht. Im Gymnasium war das natürlich anders, aber ich wollt nicht besonders behandelt werden. Das hat der Lehrer gut verstanden, obwohl er es auch verstanden hätte, wenn ich gewollt hätt, dass er die LRS bei mir berücksichtigt. Im Gymnasium hat mir das Hänseln auch nicht wirklich was ausgemacht, weil wir eine sehr gute Klassengemeinschaft waren und da hats auch keine Probleme deswegen gegeben.
BK I Wenn ich mich richtig erinnere, warst du fast immer sehr aufgeregt bei Tests und Schularbeiten. Hauptsächlich ging es dir so, weil du wusstest, du würdest mit der Zeit nicht auskommen. Deswegen hast viele Übungen bei mir kennen gelernt, die dir helfen sollten, besser mit dieser Aufgeregtheit fertig zu werden.
- Kannst du dich noch an die Anfangsübungen wie Liegender Achter, Schuhplattler und Schwerkraftgleiter erinnern? Haben dir diese Übungen vielleicht auch später noch geholfen?
T I An alle Übungen kann ich mich leider nicht mehr erinnern, jedoch sind mir einige sehr gut im Gedächtnis geblieben und haben sich lange gehalten. Am längsten, würd ich sagen, hat sich der Liegende Achter gehalten, den ich nach wie vor noch in Prüfungssituationen mache. Diese Übung ist einfach durchzuführen und nicht so sehr auffällig. Was ich mir vom Sport noch als Ritual erhalten habe ist, dass ich zwischen drei bis fünfmal ganz tief ein und ausatme. Das hilft mir, in einen sehr wachen und konzentrierten Zustand zu kommen. Das mach ich auch heut noch.
BK I Wir können uns einmal anschauen, was du noch alles so gemacht hast. Du bist immerhin in der 1. Klasse Hauptschule 8 Monate und in der 2. Klasse noch einmal 5 Monate zu mir gekommen; insgesamt waren das 46 Stunden. Und dazwischen hast du nach einem Plan zu Hause auch noch etwas machen „müssen“, wobei dich deine Mutter immer sehr unterstützt hat. Bemerkung: Wir schauen uns meine Unterlagen an.
- Was sagst du dazu, vor allen Dingen zu den vielen Kärtchen, die du gezeichnet hast?
T I Ich bin selbst sehr überrascht über die vielen Kärtchen, die ich gezeichnet habe. Daran hab ich mich wirklich nicht erinnern können, aber es ist interessant anzuschauen, wie sich im Verlaufe der Zeit meine Art zu zeichnen verändert hat.
BK I Das ist aber nicht alles. Wir haben ja auch viele Bewegungsübungen gemacht, z. B. eine Übung zur Stärkung der Konzentrationskraft und Verbesserung der Merkfähigkeit, durch die sich dann auch Vieles verbessert hat bei dir (ASTRO-Übung). Oder wir haben mit einem kleinen Ball die Reihen des kleinen Einmaleins geübt, immer vorwärts und rückwärts. Das ABC hast du auch rückwärts gelernt.
- Ob du es wohl noch kannst? Bemerkung: Wir sagen es auf.
T I Ja, wie wir herausgefunden haben, kann ich es nicht mehr wirklich (Wir lachen beide.) Jedoch konnte ich mich an den eingängigen Rhythmus, das ABC zu sprechen, gut erinnern. Bemerkung: Beim zweiten Versuch konnte Thomas das ABC schon fast wieder alleine rückwärts aufsagen.
- Welche Übungen sind dir nachhaltig geblieben und was glaubst du warum?
T I An erste Stelle würde ich den Aquarellachter setzen, weil mir der sehr bildhaft in Erinnerung geblieben ist, wahrscheinlich durch die Farben, genau wie auch die Rätsel und die Spiegelungen. Auch an das Jonglieren und das Mond-Sonne-Bild, das ich zweimal gemalt habe, kann ich mich noch gut erinnern.
BK I Mir war aufgefallen, dass dich das Sehen sehr angestrengt hat. Ich hatte meine Augen selber von dem Optiker überprüfen lassen. So wusste ich, wie er mit Kindern arbeitet. Im September 2000 bekamst du nach einer ausführlichen Sehanalyse dann eine Brille, die dir bei deiner Weitsichtigkeit sehr geholfen hat. Das konnte man auch am Schriftbild sehen.
- Wie schreibst du heute? Überwiegend am PC oder auch mal mit der Hand? Und mit oder ohne Brille? Bemerkung: Thomas schreibt etwas ohne Brille und wir vergleichen.
Was sagst du dazu? Wie hat sich deine Schrift verändert? Wie empfindest du dein Schreibtempo?
T I Mein Schriftbild hat sich seit damals natürlich wesentlich verändert. Ich schreibe noch sehr viel mit der Hand und tendiere heute mehr zur Blockschrift, weil ich in meinem Beruf in der Krankenpflege auf Kurven und zu anderen diversen Anlässen so schreiben muss. Meine Schrift ist zwar nach wie vor nicht wahnsinnig schön, jedoch empfinde ich sie heute als leserlich. Das Tempo ist nach wie vor eher langsam…Ist aber durch das viele Schreiben in der Schule schon schneller geworden im Vergleich zu damals.
BK I Gerne erzähltest du viel und auch etwas ausschweifend und langatmig. Manchmal war ich, natürlich immer mit einem Augenzwinkern, von deiner „Redefreude“ etwas genervt, weil wir mit unserem Programm in Verzug gerieten.
- Weißt du das noch und wie geht es dir heute damit, mit dem Reden und Erzählen? Was sagen vielleicht andere?
T I Wie meine Reden damals waren und aufgefasst wurden, weiß ich nicht mehr. Jedoch ist es auch heute noch so, dass es mir manchmal schwer fällt, auf den Punkt zu kommen und genau das Notwendige in einem Satz zu sagen. Doch glaube ich, dass ich es im Vergleich zu früher schon ganz gut in den Griff bekommen habe.
BK I Bei den Sprachübungen, besonders bei den Hexametern, war mir aufgefallen, dass du sehr talentiert bist und Spaß dabei hattest. Den Text konntest du dir immer extrem schnell merken. Und weil du eigentlich vom Wesen her ein ruhiger Mensch bist und dir Zeit nimmst, konntest du dich mit allen schriftlichen Arbeiten tief verbinden und sie in guter Qualität ausführen.
- Welche anderen Talente hast du noch, Thomas, vielleicht etwas, von dem du glaubst, dass du es besser kannst als andere?
T I Es ist schwer, seine eigenen Stärken zu wissen, jedoch ist es oft von Nöten, dass man sie kennt. Eine sehr große Stärke ist mein Sprachvermögen. In mündlichen Prüfungen konnte ich immer eine vernünftige Antwort geben, auch wenn ich die Antwort nicht hundertprozentig gewusst hab. (Thomas lacht.) Auch tu ich mich leicht mit dem Lernen von neuem Stoff, so dass es nie nötig war, viel Zeit dafür aufzuwenden, obwohl ich für das Verarbeiten des Stoffes mehr Zeit gebraucht hab. Auch glaube ich, dass ich über ein gut ausgebildetes logisches Denken verfüge, da ich für Fächer wie Mathematik prinzipiell ein sehr gutes Verständnis habe. Ich musste dafür nie wirklich lernen, das war einfach für mich.
12. Wie ging es mit dir nach dem Abschluss der Hauptschule weiter?
T I Die Matura danach war im Wesentlichen kein größeres Hindernis mehr für mich. Ich hatte soweit die Routine, dass ich wusste, wie ich auf meine positiven Noten komme, ohne viel zu lernen. Ich war damals natürlich mitten in der Radsaison und musste viel trainieren. Somit entsprechen meine Maturanoten nicht unbedingt meinem Leistungsvermögen. Die Berufswahl fiel danach relativ schnell, jedoch glaube ich nicht, dass ich mit meiner jetzigen Ausbildung am Ende bin; ich bin noch nicht an meinem Ziel angekommen. Meine freie Zeit nutze ich meist mit Freunden voll aus. Sie ist ein sehr, sehr wichtiger Teil in meinem Leben.
BK I Thomas, im September 2012 wirst du 24 Jahre alt.
- Was machst du jetzt gerade und weißt du schon, was dich zukünftig erwartet? Willst du hier in Tirol bleiben oder erst einmal „ausfliegen“? Wenn ja, wo zieht es dich hin?
T I Wer träumt nicht als junger Mensch davon, irgendwann auszufliegen und seine Erfahrungen im Ausland zu machen? Ich habe jedoch noch keine konkreten Pläne für September 2012 und werde sie auch sobald nicht schmieden. Ich kann nur sagen: Sobald sich für mich eine verlockende Möglichkeit ergibt, werde ich sie beim Schopf packen! (Wir lachen beide.) Ansonsten bleib ich halt hier.
14. Würdest du dich in etwa 10 Jahren erneut von mir befragen lassen?
T I Ja, gerne. Warum nicht?
BK I Thomas, ich freue mich, dass wir beide so gut miteinander reden konnten. Ich danke dir sehr für das Interview! Für den Abschluss der Berufsausbildung wünsche ich dir viel Erfolg und mal sehen, wie es mit dir weitergeht. Natürlich wünsche ich dir auch privat alles Gute, vor allem beim Sportln! Danke, Thomas!
Bemerkungen der Mutter
Als ich im Frühjahr 2011 nach 11 Jahren versuchte Thomas zu finden, kam ich zunächst mit der Mutter ins Gespräch. Ich stellte ihr einige Fragen, auf die sie mir auch schriftlich antwortete. Weil es widerspiegelt, wie unterschiedlich Erwachsene und Kinder erleben, möchte ich es hier einfügen. Ich habe es etwas überarbeitet und zusammengefasst:
Die Hauptschule war ja schlimm für Thomas und auch für uns alle. Nur dank seines Deutschlehrers war es erträglich. Er war es, der ihm immer gut zuredete und ihn nicht als "Depp" bezeichnete, wenn er auch extrem langsam war. In dieser Zeit hat sich aber auch sehr viel getan. Thomas hatte mehrere Zahnoperationen und eine Zahnspange bekommen. Das war auch die Zeit, wo er zu Ihnen kam.
Dann hat Thomas von sich aus begonnen, in einem Sportverein Rennrad zu fahren und auch Rennen zu bestreiten. In diesem Verein zu sein, glaube ich, war das Beste, was ihm passieren konnte. Dort hatte er seit der Volkschule das erste Mal wieder richtige Kollegen und einen einmaligen Trainer. Er lernte seine Emotionen unter Kontrolle zu bringen, aber auch sein Selbstwertgefühl zu steigern.
Nach der Hauptschule wollte Thomas unbedingt weiter in die Schule gehen. So kam er dann in eine Übertrittsklasse eines Privaten Oberstufenrealgymnasiums (PORG). Wenn man dieses Jahr positiv abschließt, kann man anschließend mit der 1. Klasse beginnen. Das ist ihm mit viel Glück gelungen. Er bekam er einen sehr strengen Deutschlehrer, der mir gleich beim ersten Gespräch zu verstehen gab, dass es mit Thomas an dieser Schule nichts werden wird, außer ich lege es unbedingt auf seine Legasthenie an. Das hätte ich ja dank ihrer Unterlagen tun können, doch habe ich es nicht getan. Ich wollte nicht, dass er als Außenseiter da steht. Dieser Lehrer und Thomas sind dann doch ganz gut zurechtgekommen. Ich glaube, weil er gesehen hat, dass Thomas wirklich die Schule besuchen wollte.
Die vier Jahre am PORG waren natürlich nicht leicht für uns alle. Mit den Lehrerinnen ist Thomas überhaupt nicht ausgekommen. Denen war er sicher zu anstrengend, weil er immer so viel redete, anstatt zu arbeiten. Bei den Lehrern war das anders; die hatten die besseren Nerven. Nachhilfe hat er keine bekommen. Bei Matheaufgaben ließ er sich manchmal von seiner Schwester helfen und ein befreundeter Lehrer korrigierte ab und zu seine italienischen Aufsätze. Fast jedes Jahr musste Thomas am Schuljahresende eine Qualifikationsprüfung in Deutsch und Englisch ablegen. Da er sie mündlich machen konnte, hat er es immer geschafft und kam so in die nächste Klasse. Die Matura hat er dann auch geschafft, worüber wir alle sehr froh waren. Danach war Thomas ein halbes Jahr beim Bundesheer.
Beruflich wollte er zuerst Physiotherapeut werden. Da ist er nicht aufgenommen worden. Dann hat er die Aufnahmeprüfung für die Krankenpflegeschule gemacht. Dort gefällt ihm das Praktische nicht so gut, theoretisch ist er sehr gut. Das Lernen fällt ihm leicht, ich glaube zum ersten Mal. Die Patienten mögen ihn sehr gern, die Schwestern weniger. Thomas will danach Medizin studieren, doch sind die Aufnahmeprüfungen sehr schwer und es bewerben sich sehr viele für dieses Studium.
Zusammenfassung
Wenn ich bei Kindern die Optische Figur-Grund-Differenzierung überprüfe, zeichnen sie immer vier Kärtchen in einer Reihe. Die gezeichnete Serie gibt mir u.a. auch Aufschluss über das Temperament, natürlich gibt es noch andere Hinweise auf ein Temperament.
Thomas Kärtchen tendierten anfangs stark und auch später noch zu liegenden Vierecken. So zeichnen Phlegmatiker, die deshalb (viel) Zeit brauchen, weil sie die Dinge richtig und in Ruhe machen wollen. Um sein wahres Leistungsvermögen zeigen zu können, hätte Thomas für schriftliche Arbeiten immer mehr Zeit benötigt. Leider nahm das Schulsystem auf solche individuellen, persönlichen Charakteristika kaum Rücksicht. Bei Thomas kam dazu, dass er sehr lange mit dem schwierigen Zahnwechsel zu tun hatte, wodurch das Lernen sicherlich erschwert war. Und was ich nur vermuten kann ist, dass ihn auch die vielen Fieberschübe, die mit Entzündungen einhergingen, in seiner Entwicklung beeinträchtigt haben. Thomas musste viele „Hindernisse“ überwinden.
Zum Glück verhalf ihm sein Sprachtalent bei mündlichen Arbeiten und in Prüfungssituationen zu wichtigen Erfolgserlebnissen, so wie er es im Interview selbst beschrieben hat. Doch weil er oft viel herumredete, schlug das Talent manchmal auch ins Gegenteil um. Er „nervte“ seine Mitschüler, manche Lehrerinnen und auch seine Eltern und Geschwister damit. Wie er selbst heute darüber denkt, lesen Sie im Interview, Frage 10.
Mit 12/13 Jahren fühlte sich Thomas etwas zu dick. Weil er gerne mit dem Rad fuhr, fasste er von sich aus den Entschluss, in einem Sportverein Radrennen zu fahren. Den Ausführungen der Mutter kann man entnehmen, dass es das Beste war, was Thomas in dem Alter passieren konnte. Dann wollte er unbedingt weiter zur Schule gehen und tat alles Nötige dafür.
Ich glaube, dass jeder Mensch in sich spürt, was für ihn gut ist, auch und gerade Kinder! Deshalb nehmen wir sie ernst in ihrem Wollen und helfen ihnen, ihren Weg zu gehen, so, wie es Thomas‘ Eltern getan haben.
Im Interview, Frage 12, sagte Thomas, dass er mit seiner beruflichen Ausbildung noch nicht an seinem Ziel angekommen ist. Er hat noch einiges vor sich, wofür ich ihm Mut und Kraft wünsche und Menschen, die ihn verstehen und dabei begleiten.